Der SPD-Chef ist angezählt, aber ein Nachfolger drängt sich nicht gerade auf. Bei einer Parteikonferenz bringt eine Putzfrau und Gewerkschafterin ihn in Bedrängnis.

Berlin - Es ist kurz nach 10 Uhr, als der Mann die Aula des Willy-Brandt-Hauses betritt, dessen Rücktritt als SPD-Vorsitzender angeblich schon beschlossene Sache war. Erholt sieht Sigmar Gabriel aus, der an diesem Montag einen Gerechtigkeitskongress mit einer Grundsatzrede über die Zukunft der Partei eröffnet. Genesen von einer Gürtelrose, die ihn zur Absage mehrerer Termine zwang, unter anderem auch einer Iran-Reise, die er als Wirtschaftsminister geplant hatte. In normalen Zeiten sind solche Einschnitte in den Terminkalender für die betroffenen Politiker und deren Planungsstäbe ärgerlich, mehr aber auch nicht. Aber die Zeiten sind nicht normal, nicht für die SPD, die derzeit nur noch auf 20 Prozent Wählerresonanz hoffen kann.

 

Und so stürzte allein die Behauptung des „Focus“-Herausgebers Helmut Markwort die Partei und die Medien in Aufruhr, der Rücktritt Sigmar Gabriels als SPD-Chef stehe nach Angaben einer „Top-Quelle“ unmittelbar bevor. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz werde Kanzlerkandidat, der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz Parteichef. Die Parteiführung höhnte und spottete, Markwort habe wohl wahlweise zu viel Sonne oder zu viel Weißbier erwischt. Gabriels Dementi folgte am Abend aus Stockholm. Der „Focus“-Herausgeber fühlt sich mittlerweile missbraucht und glaubt, seine Top-Quelle habe mit der Weitergabe der Information und der darauf folgenden Veröffentlichung gezielt und letztlich erfolgreich den bereits beschlossenen Rücktrittsplan durchkreuzt. In ruhigen Zeiten könnte man in der SPD über eine solche Verschwörungspirouette lachen und zufrieden resümieren: alles in bester Ordnung. Aber in diesen stürmischen Wochen lautet die schlichte Wahrheit für die SPD: Es ist alles noch viel schlimmer, als es Markwort zu weißsagen glaubte.

Denn in der SPD würden viele aufatmen, wenn das Dilemma der Partei kurz und schmerzlos durch einen Wechsel an der Spitze aufgelöst, wenn die Krise so beendet werden könnte. Aber anders als 2008, als am idyllischen Schwielowsee Kurt Beck zurücktrat, steht diesmal niemand bereit, der Gabriels Ablösung betreiben würde. Man konnte diesen Führungsnotstand schon auf dem Parteitag im Dezember beobachten. Als Gabriel ohne Gegenkandidat nur 74,3 Prozent der Delegiertenstimmen erhielt, sah es für einen Moment so aus, als verlöre der impulsive Mann aus Goslar die Nerven. Martin Schulz und Olaf Scholz waren die ersten, die ihn drängten, weiter zu machen, aus Sorge, selbst das Ruder übernehmen zu müssen.

Scholz und Schulz sind ohne Hausmacht

Die Bedenken von Schulz und Scholz sind begründet. Als Franz Müntefering den glücklosen Kurt Beck ablöste und Frank-Walter Steinmeier Kanzlerkandidat wurde, war die Partei bereit, Münteferings Führungsanspruch zu akzeptiert. Weder Schulz noch Scholz, beide ausgewiesene Agenda-2010-Verfechter, verfügen an der Basis allerdings über eine vergleichbare Autorität. Olaf Scholz wird trotz seiner Wahlerfolge in Hamburg auf Parteitagen wegen seiner pragmatisch-hanseatischen Art regelmäßig mit miserablen Ergebnissen nach Hause geschickt. Und Martin Schulz mag zwar als Europabeauftragter der Partei zum Stimmenkönig des Parteitags aufgestiegen sein. Er weiß aber selbst, dass dies in der SPD nicht allzu schwer ist, wenn man wortmächtig den Frieden in der Welt und die Einheit Europas beschwören, das lästige Kleingedruckte der deutschen Innen- und Sozialpolitik aber außen vor lassen kann.

In der Partei wird noch ein weiterer Grund dafür genannt, jetzt nicht überhastet den Parteichef zu stürzen, der wegen seiner häufigen Kurswechsel und seiner ruppigen Umgangsformen nur noch wenige enge Verbündete hat. Ein Führungswechsel käme zu früh, heißt es. Kein Nachfolger wolle ohne Not die Verantwortung für ein denkbares weiteres Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 tragen. Wer jetzt spränge, wäre in knapp einem Jahr womöglich schon wieder verbrannt, ist aus dem Führungszirkel zu hören. So viele Hoffnungsträger habe die Partei dann nicht mehr. Manuela Schwesig vielleicht, die Familienministerin, und für den Parteivorsitz Arbeitsministerin Andrea Nahles. Aber dann sei endgültig Schicht im Schacht. Auch deshalb halte die nach den Landtagswahlen im März vereinbarte Waffenruhe zwischen Gabriel und seinen Widersachern so erstaunlich gut. Hinzu kommt, dass keiner Lust verspürt, gegen Kanzlerin Angela Merkel anzutreten. Es gibt niemanden, der wie einst Gerhard Schröder am Zaun des Kanzleramtes rütteln will. Auch Gabriel würde liebend gern darauf verzichten, aber als Vorsitzender steht er in der Pflicht, wenn kein anderer drängelt. Gabriel mag vielen ein Graus sein, aber so lange keiner eine Idee hat, wie es besser werden kann, soll der Parteivorsitzende mal schön weiter wursteln.

In Berlin versucht er eben dies, nach diesem turbulenten Wochenende, auf das er mit keinem Wort eingeht. Stattdessen will er zum Auftakt der SPD-Debatte über ein Programm für die Bundestagswahl 2017 lange Linien ziehen. Der Ansehensverlust der SPD sei „existenziell“, sagt Gabriel. Nur noch 32 Prozent der Bürger würden den Genossen Lösungen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit zutrauen. „Wir müssen uns fragen, ob wir den Gerechtigkeitshunger unserer Zeit ausreichend begreifen.“ Die SPD sei heute „ein bisschen zu viel Staat und zu wenig soziale Bewegung“.

Die Partei traut Gabriel nicht mehr

Zu früheren Reformentscheidungen der Sozialdemokraten geht Gabriel auf Distanz. So habe die SPD mit der sogenannten Abgeltungsteuer „den Fehler gemacht, Erträge aus Kapitaleinkommen geringer zu besteuern als Erträge aus Arbeit“. Er frage sich, wie „das eigentlich einer Partei der Arbeit und der Sozialdemokratie passieren konnte, dass wir Arbeit bestrafen und leistungsloses Einkommen durch Kapitalerträge belohnen?“ Dies müsse schleunigst korrigiert werden. Die Steuermehreinnahmen will er ins Bildungssystem stecken. Nicht mehr die Bankenhochhäuser sollten die „Kathedralen“ unserer Zeit sein, sondern moderne Schulgebäude, so der SPD-Chef. Falsch sei es auch gewesen, sachgrundlose Befristungen von Arbeitsverträgen zuzulassen. Eine Änderung sei aber in der Koalition mit der Union derzeit nicht durchzusetzen. Schön links klingt das alles, aber der Applaus bleibt verhalten. Die Partei traut ihm nicht mehr.

Es ist denn auch nicht Gabriel, sondern Susanne Neumann, Putzfrau und Gewerkschafterin aus Gelsenkirchen, die es vermag, die Herzen der Genossen höher schlagen zu lassen. Neulich ist sie in die SPD eingetreten, nachdem sie sich bei Anne Will zuvor noch mit SPD-Vize Hannelore Kraft heftig gefetzt hatte. Sie sei Genossin geworden, weil ihr nichts anderes übrig bleibe, trotz all der Fehler der vergangenen Jahre, die den einfachen Arbeitern ihrer Ansicht nach so zu schaffen machten. „Wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nichts mehr“, sagt sie. Ihre Forderung ist schlicht: die Partei müsse „diese Agenda 2010 umkehren“. Allein für diese knappe Bemerkung erntet sie tosenden Applaus.

Befristete Beschäftigung müsse wieder abgeschafft werden, sagt Neumann. Gabriel versucht zu kontern. „Der sozialdemokratische Kandidat im Wahlkampf würde jetzt antworten: Das haben wir doch eingesehen“. Man wolle ja tiefgreifende Korrekturen, scheitere aber am Widerstand der Union. „Die Schwatten machen das nicht mit“, so Gabriel. Darauf Neumann: „Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“ Johlen, Jubel, Beifall. Gabriels Einwand, man hätte mit dieser harten Haltung jetzt auch keinen Mindestlohn und keine Rente mit 63, interessiert kaum.

Putzfrau lässt nicht locker

„Was soll ich jetzt machen“, fragt schließlich der Parteichef. Aus der Koalition „rausgehen und alles beschissen lassen, in der Hoffnung, wenn es ordentlich schlecht läuft, wählen die Menschen hinterher SPD?“ Neumann lässt sich darauf nicht ein. „Wenn eine Reinigungskraft Dir dat sagen könnte, wie Du dat hinkriegst . . .“ – der Rest geht unter im tosenden Applaus. Soll mal der Gabriel zusehen, wie er das hinkriegt. So wie Neumann denken sie jetzt anscheinend alle in dieser Partei. Gabriel, allein zu Haus.