Ende der Ära Gabriel: Nach siebeneinhalb Jahren gibt er am Wochenende den SPD-Vorsitz an den neuen Sozi-Star Schulz ab. In Wolfenbüttel machen die beiden zusammen Wahlkampf. Es wird sehr persönlich.

Wolfenbüttel - Freundschaften beginnen oft, wenn einer ganz unten ist. Sigmar Gabriel steckt 2003 knietief im Schlamassel. Eben noch regiert er in Hannover als jüngster Ministerpräsident der Republik, da vergeigt er die Wahl und ist verzweifelt. In Berlin kann Kanzler Gerhard Schröder das Harzer Elend nicht länger mitansehen. Er macht dem jungen Gabriel ein verlockendes Angebot. Spitzenkandidat bei der Europawahl. Die Chance zum Comeback.

 

Doch da ist noch ein anderer. Martin Schulz. Gabriel muss ihn wegbeißen. Er tut es nicht. Der Goslarer erzählt dem Würselener von Schröders Plan. Schulz bleibt Nummer eins in Brüssel. Gabriel muss sich eine ganze Weile als SPD-Musikbeauftragter („Siggi Pop“) verspotten lassen. Aus dieser Episode wächst Vertrauen, so etwas wie Freundschaft. Das zeigt sich auch am Mittwochabend in Wolfenbüttel.

Die „Lindenhalle“ riecht nach Sport und Schweiß. Sonst wird hier Basketball gespielt. Jetzt ist Wahlkampf. 800 Leute sind gekommen. Aber ein paar Plätze sind frei geblieben, „Martin, Martin“ ruft niemand. Niedersachsen sind eher Kaltblüter. Mehrere Rentner hocken auf der Holztribüne und scheuchen Reporter aus ihrem Blickfeld. Sind sie wegen Gabriel gekommen? „Ne, den wollen wir nicht sehen. Wir wollen den Schulz sehen. Der wird Kanzler.“

Dröhnende Rockmusik

Schulz und Gabriel marschieren zu dröhnender Rockmusik gemeinsam in die Halle. Schulz hält eine Lobeshymne auf jenen Mann, den er am Sonntag im SPD-Vorsitz beerben wird. Er erinnert aber auch an die dunklen Stunden im Leben der Politiker, wenn die Wähler Vertrauen entziehen - so wie bei Gabriel 2003 in Niedersachsen. Im Umgang mit den Höhen und Tiefen, mit dem „Phänomen des ganz oben und ganz unten“, zeige sich der wahre Charakter.

Schulz zitiert den Song „Lass Dich nicht verhärten“ des seinerzeit aus der DDR ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann. „Ein wundervolles Lied“, sagt Schulz, der als junger Mann dem Alkohol verfiel, dann aber die Kurve kriegte und die Sucht erfolgreich bekämpfte. Auch Gabriel habe in den Momenten größter Niederlagen seine Furche weitergezogen, habe die Stärke besessen, „nicht zu verbittern“. Außergewöhnlich sei es gewesen, dass er im Dienst der Partei auf Vorsitz und Kandidatur verzichtet habe. Er sei dankbar, „dass ich diesen Mann meinen Freund nennen kann“.

Gabriel fällt Schulz um den Hals

Als Schulz die Bühne verlässt, fällt ihm Gabriel um den Hals. Die Menschen im Saal erheben sich. Spätestens in diesem Moment dürften es die 800 Heimatpatrioten dem Kanzlerkandidaten verziehen haben, dass er es in drei Anläufen nicht schafft, Gabriels Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel-Vorharz korrekt über die Lippen zu bringen. Später am Abend wird Gabriel mit 99 Prozent zum Kandidaten für die Bundestagswahl bestimmt - seit 2005 hat er immer für die SPD das Mandat direkt geholt.

Für den Goslarer ist es der letzte Auftritt als SPD-Chef vor „seinen“ Leuten. Er sei „saufroh“ über den Schulz-Effekt. Über 12 000 Menschen seien neu in die SPD eingetreten. Schulz werde ein „großartiger Vorsitzender“, glaubt Gabriel. Hoffentlich halte Schulz länger als er, länger als siebeneinhalb Jahre durch. Auch wenn die SPD nicht fähig sei, ihren Vorsitzenden das Leben leicht zu machen. „Wart ab, Martin, viel Spaß noch, den Sack Flöhe zusammenzuhalten.“

Oft habe er abends wie ein Rohrspatz über die Genossen geschimpft. Viele SPD-Wähler wollten keine große Koalition mehr - und er stehe für Schwarz-Rot, räumt Gabriel ein. Er sei nicht der Richtige gewesen, die Partei aus dem Tal von 22 bis 25 Prozent herauszuführen. Schulz sei anders: „Er trägt dieses Gefühl der Sozialdemokratie in sich, in seinem Kopf und vor allem in seinem Herzen.“

Gabriel wirkt befreit

Sollte Schulz nach der Wahl Kanzler werden, Gabriel wäre der Königsmacher. Wie 1998 Oskar Lafontaine bei Schröder. Lafontaine ertrug es dann nicht, im Schatten zu stehen. Bei Gabriel scheint das nicht zu drohen. In seiner neuen Rolle als Außenminister wirkt der 57-Jährige befreit, fast wie verwandelt. Ob Türkei-Krise, Trump oder Putin - staatsmännisch trifft Gabriel die richtigen Töne. Das Rotzige, das Aggressive, das „Ihr-seid-doof“-Gehabe, was ihm sein mieses Image einbrachte und die Kanzlerkandidatur verbaute, ist weg. Auch die Geburt von Töchterchen Thea dürfte Gabriel milder gemacht haben.

Einige in der SPD waren anfangs besorgt, Gabriel würde als Chefdiplomat in Windeseile das Erbe des ins Präsidentenamt beförderten Frank-Walter Steinmeier beschädigen. Davon ist keine Rede mehr. Auch im Doppelpack mit Schulz läuft es, heißt es aus der SPD-Führung. Das ist nicht selbstverständlich. Vor vier Jahren gingen Kandidat Peer Steinbrück und Gabriel im Wahlkampf manchmal heftiger aufeinander los als auf den Gegner Union.

Nun steuert Gabriel als Vizekanzler unverändert die SPD-Regierungsgeschäfte. Schulz ist im Bilde, hält sich aber weitgehend heraus. Wer in den Augen der SPD-Anhängerschaft gerade übers Wasser läuft, packt sich nicht großkoalitionäre Steine in die Taschen. Noch vor der Saarland-Wahl, wo die SPD am 26. März nach 18 Jahren die Macht zurückerobern will, soll der mehrfach verschobene Koalitionsausschuss von Union und SPD nachgeholt werden - erstmals wohl mit Schulz. Besonders scharf darauf ist er nicht. Er ist der Neue in Berlin, der Angela Merkel verdrängen will. Da braucht Schulz keine Bilder, wie er bei ihr vorfährt.