Regieren oder Opponieren? Die SPD weiß auch nach ihrem Berliner Parteitag nicht, was sie wollen soll, kommentiert Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Berlin - Martin Schulz hatte vor dem Berliner SPD-Parteitag keinen Mangel an guten oder wenigstens gut gemeinten Ratschlägen. Besonderen Eindruck hinterließ beim Chef der deutschen Sozialdemokraten, was ihm der griechische Ministerpräsident schrieb: „Vergiss nicht“, mahnte Alexis Tsipras, „dass eine wahrhaft linke und fortschrittliche Position nicht darin besteht, die eigene Identität möglichst sauber zu halten.“ Tsipras brachte damit das Dilemma der SPD auf den Punkt.

 

Sehr viele Genossen haben – grob gesprochen – die Schnauze voll von Koalitionen, in denen die SPD der Juniorpartner von CDU und CSU ist. Zu stark würden die sozialdemokratischen Überzeugungen in solchen Regierungen verbogen, zu wenig würden diese Opfergänge der Partei vom Wähler gewürdigt. Die SPD brauche jetzt eine Ruhezeit in der Opposition, damit sie wieder zu sich selbst finden kann.

Dagegen steht die kühle Einsicht: Vor allem der, der regiert, kann die Welt verändern – selbst wenn er sich dafür die Koalitionspartner nicht aussuchen kann und die reine Lehre seines Parteiprogramms opfern muss. Und wer kann schon sicher sagen, dass ein Oppositionsdasein bei der nächsten Wahl zu mehr Stimmen führt?

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, lässt Johann Wolfgang von Goethe seinen Doktor Faust jammern. Die SPD, in der das Selbstbejammern eine mindestens ebenso große Tradition hat wie der Wille zur Macht, gab sich in Berlin einer stundenlangen Seelenschau hin. Ihre Seelennot, ihre Zerrissenheit wird allerdings auch nach dem schlussendlich gefassten Beschluss nicht enden, nun Gespräche mit den Unionsparteien zu wagen.

Minderheitsregierung – die Suche nach einem dritten Weg

„Ergebnisoffen“ verspricht Martin Schulz in diese Verhandlungen zu gehen. Das lässt auch die Möglichkeit einer von der SPD tolerierten Minderheitsregierung zu. Es ist eine Option, mit der viele Genossen liebäugeln – vermutlich vor allem deshalb, weil es das Unvereinbare doch vereinbar zu machen scheint: gleichzeitig in der Regierung und in der Opposition zu sein.

Warum eine solche Minderheitsregierung stabiler und für die Sozialdemokraten nutzbringender sein soll als eine echte Koalition, bleibt schleierhaft. Ohne eigene Minister hätte die SPD nur wenig zu sagen. Sie würde in einer solchen Konstellation erst recht wie ein Anhängsel der Union erscheinen. Und eine Regierung, die sich ihrer Mehrheit im Parlament niemals ganz sicher sein kann oder sogar ständig nach neuen Mehrheiten suchen muss, kann nicht voll handlungsfähig sein.

Vor allem Schulz selbst müsste Neuwahlen fürchten

Genau das aber braucht Deutschland. Und mehr noch: Europa braucht eine starke deutsche Regierung. Weil nach bisherigem Terminkalender im Jahr 2018 in keinem der großen europäischen Länder und auch in der EU selbst keine Wahlen anstehen, eröffnet sich eine seltene Chance zum Umbau der Union. Fällt Berlin – wie in den letzten Monaten – als Antreiber und Gestalter aus, wird es nichts mit den dringend notwendigen Reformen. Schulz, der in Berlin mit dem Ruf irritierte, bis 2025 Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen, hat dieses Argument inzwischen zur Leitmelodie seines Werbens für Gespräche mit Angela Merkel gemacht.

So wankelmütig, so voller Ironie kann Politik sein: Nach dem Desaster bei der Bundestagswahl sicherte sich Schulz den Verbleib an der Parteispitze, weil er die SPD für vorübergehend nicht-regierungswillig erklärte. Nun, nach dem Scheitern von Jamaika, hat er ein starkes persönliches Interesse an einer stabilen Regierung unter SPD-Beteiligung. Denn die wahrscheinlichste Alternative dazu heißt immer noch Neuwahlen. Dann aber würde unweigerlich zu klären sein, ob der irrlichternde, spürbar verunsicherte Schulz erneut Kanzlerkandidat sein und die Richtung der Partei weiter bestimmen sollte. Die Antwort der SPD dürfte nur lauten: Nein!