Auf zwölf Euro soll der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland „perspektivisch“ angehoben werden, hat die SPD beschlossen. Rückendeckung kommt von Wirtschaftsforschern: Demnach liegt die Lohnuntergrenze in Westeuropa meist über 9,60 Euro pro Stunde – in Deutschland nur bei 9,19 Euro.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Früh hatte Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Marschrichtung vorgegeben: Zwölf Euro soll der gesetzliche Mindestlohn künftig betragen – 2,81 Euro oder gut 30 Prozent mehr als heute. Seine SPD folgte Anfang der Woche mit ihrem Sozialstaatskonzept. „Wir werden das Mindestlohngesetz wie vereinbart 2020 evaluieren und weiterentwickeln“, heißt es darin. „Unser Ziel ist die perspektivische Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro.“ Die öffentliche Hand, somit der Bund, solle bei der Auftragsvergabe mit gutem Beispiel vorangehen.

 

Bedenken kommen nun nicht nur von der Union, die auf das gemeinsam installierte Verfahren mit der Mindestlohnkommission verweist und einen politischen Überbietungswettbewerb fürchtet, sondern selbst von Seiten der Gewerkschaften. „Systematische Fragen“ werfe diese Zielsetzung auf, sagte Verdi-Chef Frank Bsirske neulich. Seine Gewerkschaft trete für eine Orientierung am Tariflohn ein – mithin für den Kurs der Mindestlohnkommission, an der die Gewerkschaften ja angemessen beteiligt sind. Die Sorge geht um, dass ein sprunghaft erhöhter Mindestlohn tarifliche Löhne in Branchen mit unterdurchschnittlichem Lohnniveau aushebelt. DGB-Chef Reiner Hoffmann nimmt daher lieber die Ausweitung der Tarifbindung als die gesetzliche Lohnuntergrenze ins Visier.

Kräftige Anhebung in den 22 EU-Staaten

Seit dem 1. Januar sind 9,19 Euro pro Stunde als Minimum in Deutschland vorgeschrieben. Zum 1. Januar 2020 sind mindestens 9,35 Euro fällig. Damit ist der Wert weiterhin deutlich niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Euro-Staaten, die alle 9,66 Euro und mehr Stundenlohn vorsehen, in Frankreich erstmals über zehn und in Luxemburg sogar 11,97 Euro. Dies stellt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in ihrem neuen, unserer Zeitung vorliegenden Mindestlohnbericht fest.

In den 22 EU-Staaten mit gesetzlicher Lohnuntergrenze sei diese zuletzt im Mittel kräftig angehoben worden – nominal um 4,8 und nach Abzug der Inflation um 2,7 Prozent. 20 EU-Staaten hätten ihre Mindestlöhne in den vergangenen Monaten erhöht. Erstmals seit sieben Jahren sei auch der griechische Mindestlohn gestiegen – um elf Prozent. Die nominalen Steigerungen waren die zweitstärksten seit 2009. „Innerhalb der EU ist bereits seit einigen Jahren ein Trend zu deutlich höheren Mindestlohnsteigerungen zu beobachten, der sich 2019 fortgesetzt hat“, schreiben die WSI-Tarifexperten Thorsten Schulten und Malte Lübker. Die stärksten Zuwächse sehen sie in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern, wo die Zuwachsraten aktuell zwischen sieben und zehn Prozent liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,4 Prozent in den Niederlanden bis 4,0 Prozent in Deutschland – hier allerdings für zwei Jahre, da der Wert im vorigen Jahr nicht erhöht wurde. In Spanien und Litauen wurden die Lohnuntergrenzen zum 1. Januar sogar um gut 22 beziehungsweise um 38 Prozent angehoben.

Bundesregierung will Initiative in Europa starten

In Großbritannien habe die konservative Regierung das Ziel ausgegeben, bis 2020 die Lohnuntergrenze auf 60 Prozent des mittleren (Median-)Lohns zu bringen. Ab diesem Niveau, gemessen am jeweiligen nationalen Median, gelten Löhne nach Ansicht von Armutsforschern als einigermaßen existenzsichernd, weil Alleinstehende dann in der Regel ohne entsprechende Sozialtransfers von der Arbeit leben können.

Vorschläge, europaweit ein entsprechendes Mindestniveau zu verankern, finden zunehmend Unterstützer. So hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft 2020 um einen „europäischen Rechtsrahmen für Mindestlöhne“ bemühen soll. Die Bundesminister Katarina Barley, Olaf Scholz und Hubertus Heil (alle SPD) wollen dann eine entsprechende Initiative starten. Trotz der aktuellen Erhöhungen sei der Mindestlohn in den meisten Ländern aber noch ein erhebliches Stück vom 60-Prozent-Ziel entfernt, betonen die WSI-Forscher. Das gelte insbesondere für Deutschland, wo der Mindestlohn aktuell nicht einmal die Hälfte des Medianlohns erreicht. Bei 60 Prozent müsste der deutsche Mindestlohn auf annähernd 12 Euro angehoben werden – was sich wiederum mit den Vorstellungen der SPD trifft.