"Spiegel Online" will Die Nerven loben, ätzt aber gegen Stuttgart. Gartenzwergiges Stuttgart? Betäubte Kleinbürger? Twitter läuft über so viel Klischee heiß. Jan Georg Plavec formuliert eine Erwiderung.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

„Dabei hat es natürlich eine zwingende Logik, dass die zurzeit verzweifelteste, düsterste deutschsprachige Band nicht aus Hamburg oder Berlin kommt, sondern aus Stuttgart, dem Herzen der deutschen Gartenzwergigkeit und Ingenieurigkeit, die so wahnsinnig nervt (eben!): Jedes weiß getünchte Einfamilien-Reihenhaus bitte nur ein Robin-Schulz-Album, danke, Bourani geht auch zweimal. Gegen diese Palisade aus betäubten Kleinbürgern lärmen Die Nerven an, und das mit zunehmender Intensität.“ (Spiegel Online)

 


Stuttgart - So beschreibt man bei Spiegel Online aktuell die Stadt Stuttgart, oder zumindest in der Kulturredaktion – da, wo die Rezension zum am Freitag erscheinenden Album „Out“ der Stuttgarter Band Die Nerven geschrieben wurde. Man findet dort die Musik super, es wird wie schon der Vorgänger „Fun“ in der Kolumne „Die wichtigste Musik der Woche“ besprochen. Und so eine gute, gegen den Mainstream gebürstete Musik kann ja unter normalen Umständen auf keinen Fall aus Stuttgart kommen. Aus der Peripherie!


Als Betreiber der Kolumne kopfhoerer.fm setze ich mich seit einiger Zeit mit der Popmusik im Raum Stuttgart auseinander und durfte in dieser Funktion den Aufstieg von so fantastischen Stuttgarter Acts wie Heisskalt, Levin goes lightly oder eben Die Nerven begleiten. Die sind so gut, dass sie sogar außerhalb Stuttgarts bekannt und beliebt sind, weswegen ab und zu Leute, auch Journalisten, über diese Musiker schreiben. Journalisten wollen immer Geschichten erzählen, und die im Zusammenhang mit den genannten Künstlern erzählte Geschichte lässt sich in zwei Sätzen erzählen: In Stuttgart ist es ganz piefig, und trotzdem gibt es dort tolle Musiker.

Sorry, war jetzt nur ein Satz. Reicht aber auch. Die Geschichten über die Stuttgarter Musiker unterscheiden sich in der blumigen Schilderung der immer gleichen Geschichte. Spiegel Online nimmt die „betäubten Kleinbürger“. „Sind Schwaben trotz aller Vorurteile stilvoll und cool?“, fragte die FAZ vergangenes Jahr den Rapper Cro. Linus Volkmann vom Musikexpress überzeugte sich immerhin bei einem Vor-Ort-Besuch davon, dass es in Stuttgart nicht bloß „polternde Provinzialität“ gibt.

Jaja, könnten sie jetzt in Berlin und Hamburg sagen, getroffene Hunde bellen, siehe Twitter am Dienstagabend (hier, hier und hier). Der Schwabe hat also doch ein Problem mit seiner Provinzlandeshauptstadt. Größtes Dorf der Welt und so. Doch das ist nicht der Punkt. Immer wenn in Texten zur Popkultur über die deutsche „Provinz“ geschrieben wird – gerne sitzen die Autoren in Berlin und Hamburg –, dann vergewissern sich die Autoren der eigenen Zentralität. So gesehen ist alles Provinz und Gartenzwerge, außer eben da wo man selbst wohnt.

Popkultur im Wasserkopf

Über die Beliebtheit von Gartenzwergen und den Spießfaktor in Berlin-Wilmersdorf oder in Hamburg-Iserbrook lässt sich nur spekulieren. Klar ist: Gartenzwerge und betäubte Kleinbürger gibt es dort genauso wie in Bottrop, Weilheim, Emden und Stuttgart. Im Schanzenviertel natürlich weniger. Trotzdem ist einer, nur weil er öfters in der Schanze abhängt, nicht automatisch cool.

Klar ist auch, dass „Intro“ zum Nerven-Album Folgendes geschrieben hat: „Wer bei Bands wie Sonic Youth, den Neubauten, Fehlfarben oder Mutter nicht fluchtartig den Raum verlässt und Berlin immer noch nicht als Lebensmittelpunkt definiert, kommt an dieser Platte nicht vorbei.“

Die-Nerven-Musik gilt für diesen Autor nicht als Hauptstadt-, sondern als Provinzmusik. In den Achtzigern, wo Die Nerven ihre musikalischen Wurzeln haben, galt sie mal als Großstadtmusik. Der noch diese Woche in der Arte-Mediathek nachzusehende Film B-Movie dokumentiert das eindrucksvoll.

Das war, bevor Berlin zum popkulturellen Wasserkopf der Republik wurde.

Die Band Sea + Air, die in einem Kaff weit südlich von Stuttgart lebt, hat mir im Sommer gesagt: Nur Kleinstädter ziehen nach Berlin. Stellen wir uns also vor, dass die Großstadtjournalisten, wenn sie über „Gartenzwergigkeit“ schreiben, eigentlich ihre eigene Heimat meinen. Dass sie sich in ihrer Großstadt ihre Großgeistigkeit immerzu einreden, indem sie benennen, was nun alles nicht so ist, wie sie gerne sein mögen.

So lange gilt:
 


Und die sind auch nicht alle aus Stuttgart angereist:

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