Großhöchberg ist eine Hochburg der Kleinkunst. Der Flecken am Rande der Region zieht nicht nur (Lebens)Künstler an. Warum ist gerade dieser Ort so beliebt? Wie leben die ehemaligen Stadtmenschen? Eine Spurensuche

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Spiegelberg - Alle reden von der Landflucht – und denken dabei an die vielen Menschen, die der Provinz den Rücken kehren, um in der Stadt einen Neustart zu wagen. Im winzigen Spiegelberger Teilort Großhöchberg ist der Trend gegenläufig. Der Flecken ist beliebt. Es gibt nur selten ein frei werdendes Häusle, das nicht im Nu wieder verkauft wird. Viele Städter haben den hübsch auf einem Höhenzug des Schwäbischen Walds gelegenen Ort entdeckt. Schuld daran sind wohl die Großhöchberger (Lebens)Künstler.

 

Zuerst kam das Ehepaar Weisensee. Die beiden haben den heruntergekommenen Klosterhof komplett renoviert. Manche Gäste sagen, sie hätten das Gebäudeensemble in ein Museum verwandelt. Das ist jetzt fast 40 Jahre her. Im Rückblick muss man Uta und Rainer Weisensee als die Großhöchberger Trendsetter bezeichnen, obgleich sie diesen Anglizismus ganz bestimmt weit von sich weisen würden.

Frieder Nögge als Mieter des umgebauten Stalls

Mitte der Siebziger wurde das Ehepaar aus der Stadt von den alteingesessenen Menschen im Ort zunächst misstrauisch beäugt. Die Weisensees sind geblieben. Längst gehören sie zu Großhöchberg wie der rund 350 Jahre alte Klosterhof, der vermutlich einst ein Teil des Klosters in Murrhardt war. Später hat der bekannte, aber menschenscheue Mime Frieder Nögge bei den Weisensees im liebevoll umgebauten Schweinestall Zuflucht und Ruhe gesucht und gefunden. Nögge ist vor zwölf Jahren gestorben. Er wurde auf dem Großhöchberger Friedhof beerdigt.

Noch zu Lebzeiten Nögges hat sich auch dessen Schüler Thomas Weber im Ort niedergelassen. Seit 13 Jahren betreibt er die Kleinkunstbühne Kabirinett. Der 39-jährige Schauspieler und Komiker bekommt keine öffentlichen Zuschüsse. Seine Vorstellungen der „Probierbühne auf dem Lande“ – in den Stücken werden während der Aufführungen auch Mahlzeiten gereicht – sind meistens ganz schnell ausverkauft. Die Besucher pilgern aus allen Ecken der Region Stuttgart in das Kabirinett.

Jutta Scheuthle ist zurück gekommen nach Großhöchberg

Noch mal ein paar Jahre später ist Jutta Scheuthle zugezogen. Die gelernte Restauratorin und Kirchenmalerin kam indes „zurück“, auf diese Feststellung legt die 57-jährige Frau wert. Sie war einst mit Frieder Nögge verheiratet und hatte sich scheiden lassen. Sie hat Verwandtschaft im Flecken und war schon als Kind oft zu Besuch. Der aus Film und Fernsehen bekannte Schauspieler Jürg Löw hat sich vor etwa vier Jahren in dem Nest am Rande der Region niedergelassen. „Der Liebe wegen“, sagt er und grinst. Löw ist mit Jutta Scheuthle liiert. Sie organisiert das Kulturprogramm auf dem Klosterhof der Weisensees. Und der 68-jährige Pensionär, der nur noch nach „dem Lustprinzip arbeitet“, wohnt ein paar Schritte entfernt in einem eigenen Haus.

Kürzlich hat Jo Frühwirth an der kaum befahrenen Durchgangsstraße ein uraltes Fachwerkgebäude gekauft und in ein Seminarhaus verwandelt. Der 66-jährige ehemalige SWR-Fernsehredakteur sagt: „Mich hat wohl das Schicksal hergeweht.“ Er hatte raus aufs Land gewollt, ist aus der Stuttgarter Innenstadt kommend eher zufällig in Großhöchberg gelandet – und habe das noch keinen Tag bereut, sagt er.

„Die Gelegenheit beim Schopfe gepackt“

Ein Vormittag im Frühsommer – Jutta Scheuthle, Jürg Löw, Jo Frühwirth und Thomas Weber sitzen im umgebauten Hühnerstall des Klosterhofs. Wir haben sie zusammen geholt, um über ihre Leben im Ort zu plaudern. Jutta Scheuthle serviert Kaffee, Tee und Gebäck aus Uta Weisensees Ofen. Die vier erzählen, warum sie aus der Stadt in Richtung Land geflüchtet sind. Löw hat die vergangenen 25 Jahre in Köln gelebt und sagt, er habe nach der Pensionierung „die Gelegenheit beim Schopfe gepackt“, wolle sein Leben noch mal grundsätzlich ändern. Er schwärmt von der ländlichen Ruhe, grinst und sagt dann: „Wenn der Nachbar den Traktor stehen lässt.“ Großhöchberg sei allerdings ein „Ausnahmedorf“, wegen der vielen kulturellen Angebote auf dem Klosterhof, im Kabirinett und in Jos Seminarhaus Via – der Weg. Auch deshalb sei ihm der Wegzug aus Köln nicht schwer gefallen.

Der Journalist Frühwirth sagt, auch er habe die Ruhe gesucht und gefunden, könne jetzt aus dem Haus treten und sofort losjoggen. Für sein Seminarhaus-Projekt sei „die Natur ein guter Partner“. Frühwirth hat Jahrzehnte lang für das Fernsehen die sozialen Themen beackert, nebenher hat er sich zum Festhaltetherapeuten ausbilden lassen, er leitet sogenannte Familienaufstellungen an. Obgleich er noch gar nicht so lange in Großhöchberg lebe, als Single habe er „in diesem besonderen Dorf“ mehr persönliche Kontakte zu den Menschen gefunden als früher mitten in der Stuttgarter City. Als Neuankömmling müsse man sich allerdings „respektvoll verneigen“ – vor den alteingesessenen Familien und vor den Trendsettern wie den Weisensees oder dem „Gemeinschaftsstifter Thomas“. In Großhöchberg, sagt Weber, „gibt es viel Raum, um sich auszubreiten und zurück zu ziehen“. Er sei einst „als Suchender“ her gekommen, der Ort und seine unerwartet aufgeschlossenen Menschen hätten ihm ungeahnte Möglichkeiten geboten. Jeder könne tun und lassen, „was ihm gut tut“. Einige seiner Theaterstücke, etwa die „Räuberwege“, spielen im Wald, andere auf einer großen Wiese am Ortsrand.

Bereicherung und Belastung

Wer indes ganz bewusst nur die Ruhe suche, so Thomas Weber, sei in Großhöchberg nicht mehr richtig. Die vielen Künstler, die im Ort leben und arbeiten, „verändern die Struktur“. In Großhöchberg wohnen auch Günter Deyhle, genannt Gitze, der Sänger von Gitze und Band, sowie Tim Hellebrand von der Gauklertruppe Forzarello. Die Dorfbewohner „erfahren Bereicherung“, sagt Weber, aber sie müssten immer wieder mit Autos und Lärm rechnen. Der Wandel des Bauerndorfs zum „Kulturbuckel“ sei ein schmaler Grat. Alle müssten aufpassen, dass „das nicht rüberkippt“, so Weber. Lärm indes ist Ansichtssache. Frühwirth sagt, eine Nacht bei Freunden in Stuttgart komme ihm mitunter vor wie „eine kleine Folter“.

Jutta Scheuthle also ist heim gekommen nach den vielen Jahren in der Fremde. Sie hat in Berlin gelebt, in Stuttgart, in Hamburg und in der Rhön – und wusste schon lange: „In Großhöchberg sind die Menschen, mit denen ich mich verstehe“. Sie spricht von einem „leichten Miteinander“. Wer in Großhöchberg lebe, der komme zu Fuß kaum ohne ein Schwätzchen hier und ein nächstes Schwätzchen dort voran. Löw sagt, er brauche für den Marsch durch das knapp 100 Seelen zählende Nest „länger als durch Köln“. Und Jo Frühwirth sagt, er lebe jetzt aktiver als in der Stadt. Alle vier haben längst beschlossen, dass sie in Großhöchberg alt werden wollen. Sogar Thomas Weber, der Jungspund in der Runde, der demnächst Vater wird.

Gemeinsam die Schafe eines Dorfbewohners versorgt

Löws Schwiegertochter hat kürzlich bei einem Besuch gefragt, ob er eines Tages wirklich auf dem Großhöchberger Friedhof liegen wolle. „Die Absicht ist da“, habe er geantwortet, „ist doch nicht der schlechteste Platz“. Jutta Scheuthle ist sich sicher, dass sie später, auch im Falle der Pflegebedürftigkeit, nicht in ein Heim ziehen muss. Man helfe sich bereits heute gegenseitig. Kürzlich hätten ein paar Dorfbewohner die Schafe eines Nachbarn, der überraschend ins Krankenhaus musste, versorgt. Dabei hatte keiner den leisesten Schimmer von Schafen. Jutta Scheuthle grinst verschmitzt, sagt: „Thomas, vermutlich musst du später mal für uns Alte einkaufen.“

Zu Beginn des Gesprächs hatte die Rückkehrerin noch erklärt, sie sei sich überhaupt nicht sicher, ob das Leben in Großhöchberg wirklich besser sei als andernorts. Doch jetzt, beim Plaudern über das eigene Älterwerden, sagt sie: „Doch, das Leben hier oben könnte besser sein.“