Mit fünfzig Jahren Verspätung ist im Stuttgarter Kino Delphi ein grandioser tschechischer Spielfilm zu sehen: „Marketa Lazarová“.

Stuttgart - Egal, wie oft Figuren ihr Leben unterm Mörderdolch verröcheln, viele Zuschauer der TV-Serie „Game of Thrones“ spüren Sehnsucht nach der rohen Welt, die da zum Leben erweckt wird. Ungeschminkt mittelalterlich geht es auch im tschechischen Spielfilm „Marketa Lazarová“ zu. Aber wohl noch kein Zuschauer dürfte in den fünf Jahrzehnten seit der Uraufführung 1967 Sehnsucht nach der gezeigten Epoche gespürt haben.

 

Halb fieberwahnhaft, halb hyperrealistisch entwirft das 1998 von Kritikern zum besten tschechischen Film aller Zeiten gewählte Werk ein Panorama der Rohheit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Damit konnte damals weder der sozialistische Volkserziehungsbetrieb noch das westliche Publikum viel anfangen. „Marketa Lazarová“ blieb lange ein Geheimtipp. Im Ausland machten ihn wenigstens DVD-Veröffentlichungen greifbar, in Deutschland bekommt er erst jetzt eine Chance. Der mutige Mannheimer Kleinstverleih Dropout Cinema hat ihn für eine um ein halbes Jahrhundert verspätete Uraufführungstour ins Programm genommen. In Stuttgart ist der Film einmalig am 30. Dezember um 22.15 im Delphi zu sehen.

Das tschechoslowakische Kino der sechziger Jahre unterlief zwar beständig den Kontrollblick der Zensoren, aber dass František Vlácil (1924-1999) „Marketa Lazarová“ drehen konnte, lässt einen noch immer offenen Mundes staunen. Das Projekt war schließlich nichts Kleines, das sich zwischen größeren Filmen hätte verstecken lassen, es war ein logistischer Kraftakt. Zwei Jahre lang drehte Vlácil vor Ort. Er zwang seine Schauspieler, so lange in den authentischen Kulissen und mit den teils nach alten Methoden gefertigten Requisiten zu leben, dass sie quasi aufrauten.

Ein weiter Weg zur Zivilisation

Diese Besessenheit vom historisch Korrekten geht aber mit dem völligen Desinteresse am museumsstolzen Herzeigen von Schaustücken einher. Vlácil will die Gemütszustände seiner Figuren vermitteln, ihre Gesinnungen, ihre Werte – so grob und dürftig die sein mögen. Er erzählt von den Kozliks, einer tschechischen Grundherrensippe, die eher noch eine Räuberbande ist. Dass sich die bei einem Überfall an einem deutschen Bischof vergreift, also die Ordnungsmacht des Königs auf den Plan ruft, scheint am kleinen Beispiel einen großen Epochenwechsel deutlich zu machen. Eine christliche Struktur rückt gegen heidnische Anarchie vor, das ausgreifende Großgemeinschaftsdenken gegen einen visionslosen lokalen Despotismus. Aber Vlácils Bild der Kirchenmänner und Königstreuen ist eben nicht schmeichelhafter als das der hinterwäldlerischen Halsabschneider.

Mit Zeitsprüngen, Traumpassagen, subjektiver Schwarz-Weiß-Kamera, überlappenden Dialogen und einem auf Studioeffekte setzenden Ton, der jeden Satz so klingen lässt, als offenbare ein Erzähler die Gedanken der jeweiligen Figur, nimmt Vlácil den Zuschauern die Möglichkeit zum voyeuristischen Betrachten einer sich eigendynamisch entfaltenden Grausamkeitsfolge. Er zwingt zum Mitdenken und zum Verwickeltwerden. So wird das noch immer Moderne an den erschreckend simplen Impulsen und Denkmustern der Figuren deutlich. Ein Film, der Mitte des 13. Jahrhunderts spielt, erklärt ganz aktuell: Es ist noch ein weiter Weg bis zur Zivilisation.