Die Unparteiischen der Fußball-Europameisterschaft bilden eine ganz eigene Kaste. Sie alle hören nur auf das Wort von ihm: Pierluigi Collina, dem legendären italienischen Schiedsrichter.

Sport: Heiko Hinrichsen (hh)

Warschau - Mit seiner bayerischen Bierruhe, die man bei der Uefa so sehr schätzt, hatte Wolfgang Stark auch die Hochsicherheitspartie zwischen Polen und Russland souverän in den Griff bekommen. Das Spiel in Warschau, in dessen Vorfeld es rund 20 Verletzte und mehr als 150 Festnahmen gegeben hatte, konnte der 42-Jährige also auf der Habenseite verbuchen. Zu den vier von insgesamt zwölf Referees, die bereits nach der EM-Vorrunde ihre Koffer packen mussten, gehörte der Bankkaufmann aus Landshut dennoch.

 

„Wir sind bestohlen worden. Dieser Blindfisch hat den Elfer nicht gesehen“, schimpfte der wütende Innenverteidiger Vedran Corluka. Und tatsächlich: im entscheidenden Gruppenspiel der Kroaten gegen Spanien hatte Wolfgang Stark einen berechtigten Elfmeter nicht geahndet, als Sergio Ramos den Angreifer Mario Mandzukic foulte. Stark entschied in der 27. Minute auf Eckball statt auf Strafstoß – und der Uefa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collini senkte den Daumen. Deutschlands bester Schiedsrichter und seine Assistenten Jan-Hendrik Salver, Mike Pickel sowie die Torrichter Deniz Aytekin und Florian Meyer waren nach Ende der Vorrunde also nicht etwa einer Nationenquote zum Opfer gefallen, wie es der Vorsitzenden der DFB-Schiedsrichterkommission, Herbert Fandel, hinterher schönreden wollte – sondern dem Leistungsprinzip.

Ihre Verantwortung ist hoch, der Druck, der auf ihnen lastet, immens; sie geben bei EM- und WM-Turnieren generell keine Interviews und trainieren bei der Euro 2012 abgeschottet im kleinen Agrykola-Stadion in Warschau. Die Schiedsrichter bilden im internationalen Fußball wie immer eine eigene Kaste. Darin gibt es Verlierer, wie Stark – und einen Musterschüler: Es ist der Engländer Howard Webb, 40, der bei der WM 2010 das Endspiel pfiff, und auch bei der EM wieder tadellose Auftritte hinlegt – zuletzt im Viertelfinale zwischen Tschechien und Portugal.

Nur einer spricht

Gibt es allerdings aus Schiedsrichtersicht etwas zu sagen, dann spricht abseits der Spiele, wo der Funkverkehr zwischen dem Hauptschiedsrichter und seinem Gespann dem eines Flughafens nahekommt, nur einer: Pierluigi Collina, der kahlköpfige Chef aus Bologna, der zwischen 1998 und 2003 sechsmal in Folge zum Weltschiedsrichter des Jahres gewählt wurde.

Collina macht seine Sache wie früher auf dem Platz hervorragend. Weil die Unparteiischen latent in der Kritik stehen, muss sich der 52-Jährige auch diesmal vor seine Zunft stellen. Seine Anwaltsrolle füllt Collina bestens aus. „Der Ball, den John Terry beim Spiel Ukraine gegen England aus dem Tor schlug, war drin“, gibt der Italiener anlässlich einer Zwischenbilanz in Warschau zu, „es war ein Fehler, ein menschlicher Fehler.“ Viel lieber wählt der Oberschiedsrichter allerdings die Vorwärtsverteidigung: Da wären zum Beispiel die knappen Abseitsentscheidungen, die in den 24 Vorrundenspielen in einem Korridor von einem Meter in Bezug auf die Position des letzten Verteidigers gefällt wurden. „Es gab hier 309 Entscheidungen, von denen nur 13 falsch waren“, sagte Collina, an dessen Abschied 2005 sich eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Altersobergrenze von 45 Jahren bei internationalen Einsätzen entzündet hatte: „Das entspricht einer Genauigkeit von 95,7 Prozent. Die Stürmer wären froh, sie hätten eine solche Trefferquote.“

Strafe muss sein

Auch Collina weiß natürlich, dass das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat, aber er weiß vor allem, dass die Öffentlichkeit Zahlen liebt, die das diffuse,  schwer messbare Arbeitsfeld eines Schiedsrichters ein bisschen veranschaulichen. Daher hat Collina noch ein paar Zahlen im Gepäck – und zwar zum Thema Torrichter, um dessen Erhalt die Schiedsrichter allein deshalb kämpfen, weil sie sich von der Technik nicht in ihren Kompetenzen beschneiden lassen wollen.

„Seit die Uefa die Torrichter eingeführt hat, gab es in drei Jahren Europapokal und bei dieser EM über 1000 Spiele – und nur diese eine Entscheidung beim Spiel Ukraine gegen England war falsch“, sagte Collina. Den Leiter besagten Spiels, den Ungarn Viktor Kassai, hat er aber ebenfalls nach der Vorrunde aussortiert. Denn wie auf dem Feld gilt: Strafe muss sein.