Spielzeitauftakt: Der bekannte britische Regisseur Robert Icke zeigt erstmals eine Arbeit in Deutschland. Er inszeniert am Schauspielhaus Stuttgart die „Orestie“ frei nach Aischylos und macht aus der bluttriefenden Tragödie einen Fall für die Psychotherapie.

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Stuttgart - Der Weg von der Selbstjustiz zum Rechtsstaat ist ein qualvoller. Er führt durch ein Jammertal, wo das Morden einfach kein Ende nehmen will. Wer hier die Macht hat, dem gehört das Recht. Und Agamemnon hat die Macht. Doch der Willkürherrscher, Heeresflottenführer und Sohn einer Dynastie von Meuchelmördern muss eine Flautenpause einlegen, weil das laue Lüftchen die Männer nicht übers Meer nach Troja tragen will. Also opfert Agamemnon zu Ehren der Göttin Artemis seine jüngste Tochter Iphigenie - und erntet Sturm.

 

Die „Orestie“ von Aischylos ist normalerweise ein Fest für die Kunstblutabteilung jedes Stadttheaters. Agamemnon tötet Iphigenie. Klytämnestra tötet Agamemnon. Orest tötet Klytämnestra. Und bis ein göttliches Schwurgericht den Sohn vom Muttermord freispricht und die Mordlogik einfach aussetzt, waten dezibelstarke Schauspieler schon mal knietief im roten Glibber. Nicht so bei Robert Icke. Mit seiner „Orestie“ nach Aischylos inszeniert der für seine Klassikerbearbeitungen vielgelobte britische Autor und Regisseur erstmals in Deutschland. Brutalismen sind nicht so sein Ding, was ja nicht schlecht sein muss.

Robert Icke verknirpst das Menschheitsdrama zu einem Küchengespräch

Für Aischylos ist der Mord an Iphigenie nur ein Vorspiel. Zu Beginn der „Orestie“ kehrt der siegreiche Agamemnon von Troja heim. Seine Gattin teilt das Bett schon länger mit Ägisth. Dann wird die ob des Kindmordes wütende Mutter und Ehebrecherin zur Schlächterin. Während Aischylos‘ Kunst in der Überwältigung liegt, er vor dem Zuschauer ein Tragikgebirge ungeahnten Ausmaßes auftürmt, in dem die Wehklagenden ohnmächtig Göttern und Schicksalen ausgeliefert sind, verknirpst Icke in seiner Inszenierung am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart das Menschheitsdrama zu einem Küchengespräch in einer säulenumkränzten Backsteinhalle.

Großbürgerloft mit Industrieschick

Das von Hildegard Bechtler schön vieldeutig gebaute Bühnenbild evoziert einen attischen Tempel, vielleicht eine Gerichtshalle. Doch am ehesten erinnert das Arrangement an ein Großbürgerloft mit Industrieschick. Am langen Esstisch hat folglich eine Familie Platz genommen. Iphigenie lebt auch noch, sieht süß aus in ihrem signalgelben Opferkleidchen und will partout kein Fleisch essen. Diese Iphigenie ist wahrscheinlich die erste Vegetarierin der jüngeren Theatergeschichte. Willkommen im Hier und Jetzt. Und so ist Agamemnon ein lieber Wochenend- und Feierabenddaddy, nicht ungestresst, der nach einem „angespannten“ Arbeitstag trotzdem den Weinkorken ploppen lässt.

Agamemnon ist dem Burn-out nahe

Bei Matthias Leja ist Agamemnon ein Anzug- Diktator wie du und ich. Hitzewallungen plagen ihn, er ringt um Fassung, dem Burn-out nahe. Wenn aber die Kamera auf ihn gerrichtet ist, weiß er sich staatsmännisch zu geben, seine Stimme knistert heimelig wie ein Kaminfeuer. Seine Sorge gilt dem bürgerlichen Glück. Klytämnestra schaut ihm beim männlichen Getue zu, skeptisch, Böses ahnend. Sylvana Krappatschs Herschergattin ist ein zartgliedriger Kontrollfreak, eine Familienmanagerin in angenehm fallenden, schwarzen Stoffen.

Ach ja, da wäre auch noch Orest, der Sohn, der für Aischylos die wichtigste Person ist, eine Art antiker Hamlet, allerdings weniger zaudernd im Umgang mit Stiefvätern. Robert Icke degradiert den vermeintlichen Helden kurzum zu einem dauerverwirrten Fall für die Psychotherapie, der sich einer Anamnese unterzieht und nur bedingt strafmündig scheint. Peer Oscar Musinowskis Orest taumelt und nuschelt sich durch die vier Stunden lange Aufführung wie ein Fremdkörper, ein einziges Fragezeichen.

Sylvana Krappatsch zelebriert ihre Rolle facettenreich

Robert Icke konzentriert sich auf den Zerfall einer bürgerlichen Familie in Zeiten des Krieges, besonders aber auf Klytämnestra, für deren Tat er Verständnis aufbringt. Das ist trotz der Länge unterhaltsam anzuschauen, auch weil Sylvana Krappatsch ihre Mutterrolle facettenreich zelebriert und alles zusammenhält. Und dennoch, in dieser Aktualisierung versteckt sich auch eine Verlustmeldung. Robert Ickes kalmierte Version der „Orestie“ wirkt wie eine Pilot-Folge zu einer dieser Netflix-Serien, in der genervte Familienväter, starke Frauen, kaputte Therapeuten und befangene Richter sich die Klinke geben. Auf die langwierige Geburt eines Rechtstaates in einem Meer der Tränen, auf das metapyhsische Chaos und eine Sprache aus einer anderen Zeit will er sich nicht einlassen. Pathologie statt Pathos.