Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)
Hat Thomas Bach auf Ihre Entscheidung reagiert, die olympische Auszeichnung zurückzugeben?
Ich habe den Orden per Einschreiben nach Lausanne geschickt. Eine Reaktion habe ich von keiner Seite erfahren. Und auch nicht erwartet.
Halten Sie Thoms Bach für eine Fehlbesetzung als IOC-Präsident?
Thomas Bach hätte die Intelligenz und das taktische Können, diese Funktion auszuführen. Aber er hat in den Augen vieler Athleten und Fans des Sports seine Glaubwürdigkeit als Antidopingkämpfer verloren. Und genauso schlimm ist es, dass er in der Russland-Causa den Eindruck erweckt hat, nicht mehr unabhängig zu sein. Er versucht, mit juristischen Finessen eine Krise zu bewältigen, in der ein Anführer mit klaren moralischen Prinzipien Zeichen setzen müsste. Integrität ist keine Sache juristischer Interpretation.
Ist es Ihrer Meinung nach eine legitime Vereinfachung zu sagen, das IOC und Russland sind die Bösen?
Nein, diese Vereinfachung wäre nicht legitim. Denn es gibt mit Sicherheit auch andere Länder, in denen Sportbetrug praktiziert wird. Dass aber eine der größten Sportnationen der Welt unter staatlicher Kontrolle kriminell handelt und dass die Beweise dafür nun offenliegen, das ist einzigartig. Dieser massenhafte Betrug verlangt Maßnahmen gegen das dafür verantwortliche System, wenn man die Werte des Sports wirklich verteidigen will.
Trotzdem heißt es häufig, dass in allererster Linie die russischen Sportler im Fokus der Antidopingkämpfer stehen würden, während andere Länder keine Strafen fürchten müssten.
Da muss man schon Ross und Reiter nennen. Wo sind Beweise? Wo sind Zeugen? Im Fall Russland gibt es sie. Jedermann kann die Dokumentation des kanadischen Juristen McLaren im Internet studieren.
Haben für Sie Olympische Spiele heutzutage überhaupt noch eine Daseinsberechtigung?
Ja. Es ist immer noch ein Fest, das die ganze Welt zusammenbringt. Aber sein Träger, das IOC, muss den Kampf gegen Doping glaubwürdiger und härter führen, es muss Gigantonomie und totale Kommerzialisierung zurückfahren, und es muss politische Neutralität nachweisen.
Ist der Sport heute denn unmoralischer als in Ihrer aktiven Zeit, oder werden einfach Missstände häufiger aufgedeckt?
Weil der Hochleistungssport heute in der Regel mit dem großen Geld verbunden ist, gleichen sich seine Mechanismen den Verhaltensweisen des „normalen“ Lebens an, in dem sich die Gesellschaft durch Gesetze, Polizei und Justiz gegen Kriminalität wehrt. Hier muss der Sport noch lernen. Der jahrelange Widerstand von Thomas Bach und dem Deutschen Olympischen Sportbund gegen ein Antidopinggesetz war bezeichnend.
Glauben Sie denn an eine Rückbesinnung auf die olympischen Ideale?
Der professionalisierte Sport wird sich mit idealistischen Vorstellungen immer schwertun. Aber solange er im Zeichen der fünf Ringe stattfindet, muss er die Maßstäbe von Anstand, Regeltreue und Fair Play respektieren. Und wenn Betrug vorkommt, muss der die Hilfe von Staat und Polizei und Staatsanwaltschaften willkommen heißen. Schließlich braucht er Anführer, deren Integrität und Unabhängigkeit unbezweifelbar sind.