Hans Wilhelm Gäb ist einer der angesehensten deutschen Sportfunktionäre. Oft wird er als das „Gewissen des Sports“ bezeichnet. Im StZ-Interview zieht er eine Bilanz des Sportjahres 2016 und übt scharfe Kritik an Thomas Bach.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Das Sportjahr 2016 stand im Zeichen der Olympischen Spiele und der Entscheidung des IOC, die russische Mannschaft an diesen teilnehmen zu lassen. Für Hans Wilhelm Gäb war dies das völlig falsche Signal in diesen Dopingzeiten. „Das war Verrat an den Idealen des Sports“, sagt der Ehrenvorsitzende der Deutschen Sporthilfe im bilanzierenden Interview mit der Stuttgarter Zeitung.

 
Herr Gäb, Sie sind immer für Fair Play eingetreten, gelten als ethische Instanz im Sport. Fühlen Sie sich in dieser Rolle im Moment sehr einsam?
Wer für normale Prinzipien des Sports wie Fair Play und Anstand eintritt, ist noch lange keine moralische oder gar ethische Instanz. Und als Streiter für den Sport nach Regeln bin ich nicht allein, Millionen wollen das. Aber richtig ist, dass unter Menschen, die im Sport etwas zu sagen haben, vielfach Resignation und auch Opportunismus zu beobachten sind.
Dem Internationalen Olympischen Komitee ( IOC) und seinem Präsidenten Thomas Bach attestieren Sie, jeglichen moralischen Anspruch verloren zu haben. Warum?
Es gibt hundertfache Beweise für ein flächendeckendes Doping in Russland, das mit Unterstützung leitender Funktionäre und Politiker organisiert wurde, unter dem Schutz sogar von Polizei und Geheimdienst. In einem autoritär gesteuerten Land wie Russland kann das nur mit Tolerierung oder nach Aufforderung durch höchste Stellen geschehen. Und obgleich Thomas Bach nach Einblick in den ersten McLaren-Report erklärt hatte, „das IOC werde nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen“, vermied er jegliche Strafmaßnahmen gegenüber der russischen Sportorganisation und deren Repräsentanten. Das war in meinen Augen eine Kapitulation vor der Macht eines Staates und Verrat an den Idealen des Sports, dessen Integrität das IOC zu verteidigen hat.
Ist das dann auch der Grund dafür, warum Sie den 2006 an Sie verliehenen olympischen Orden vor einem halben Jahr wieder zurückgegeben haben?
Es war einer der Gründe. Die Entscheidung, dieses Zeichen zu setzen, habe ich getroffen, als der russischen Läuferin Julia Stepanowa, die unter Einsatz ihrer persönlichen Existenz Details des flächendeckenden russischen Betrugs aufgedeckt hatte, der Start in Rio verweigert wurde. Mit der zynischen Begründung, sie bringe für einen Start bei Olympia nicht die ethischen Voraussetzungen mit. Ich habe mir so viel Heuchelei und Pharisäertum nicht vorstellen können. Und es waren wiederum die Russen, die über diese Entscheidung am meisten erfreut waren.
Julia Stepanowa wurde im russischen Dopingsystem als junge Athletin geschult. Sie war eine Doperin und wurde bei einer Kontrolle überführt und dann gesperrt. In dieser Zeit begann sie nachzudenken und kam zusammen mit ihrem für die russische Antidopingagentur arbeitenden Mann Witali zu dem Schluss, über den Betrug offen zu sprechen und ihn nachzuweisen. Das führte zu ihrer Isolierung und zu Bedrohungen. Sie musste mit ihrer Familie aus Russland fliehen. Wer im Interesse der Wahrheit seine Heimat opfert, der handelt wohl heldenhaft.