Die Gremienvorsitzenden der ARD finden, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu viel Fußball gesendet wird. Verstellen die Berichte über die schönste Nebensache der Welt tatsächlich den Blick auf die Randsportarten?

Stuttgart - Natürlich möchte jeder Fernsehsender so viel Publikum wie möglich. Eine Zielgruppe aber schätzen die Programmmacher ganz besonders: junge Männer zwischen Anfang zwanzig und Ende dreißig verbringen am wenigsten Zeit vor dem Fernseher, was sie aus Sicht der Programmmacher entsprechend begehrenswert macht; und das gilt keineswegs nur für kommerzielle Sender. Auch deshalb setzen ARD und ZDF auf Bundesliga und Champions League: Für Fußball begeistern sich Männer (und auch immer mehr Frauen) allen Alters; aber eben gerade auch die junge Zielgruppe.

 

Kürzlich hat die Konferenz der Gremienvorsitzenden, das höchste Aufsichtsgremium der ARD, mit Recht darauf hingewiesen, wie zweischneidig diese Strategie ist: In den Gremien sehe man „mit Sorge“, wie sich das Erste vom Fußball abhängig mache, um junge Männer zu erreichen. Die Dominanz des Fußballs werde zudem über kurz oder lang dazu führen, dass „die Vielfalt des Sports“ unterdrückt werde. Die Konferenz forderte die ARD auf, „auch andere Sportarten gezielt attraktiv zu machen“. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Sportkoordinator Axel Balkausky erwiderte, was er in solchen Fällen immer sagt: Die ARD habe 2011 über rund hundert Sportarten berichtet; Fußball mache gerade ein Viertel der Sportberichte im Ersten aus.

Der Sportkoordinator widerspricht

Kritiker werfen ARD und ZDF schon länger vor, zu viel Fußball zu zeigen. Die Diskrepanz zwischen der Aussage des Sportkoordinators und der Wahrnehmung vieler Zuschauer lässt sich leicht erklären: Nur ein Bruchteil jener 75 Prozent, die das Erste laut Balkausky anderen Sportarten widmet, findet im Abendprogramm statt. Außer bei Turnieren werden wichtige Fußballspiele dagegen grundsätzlich erst nach 20.15 Uhr angepfiffen: weil die Sender dann die meisten Zuschauer haben. Auch finanziell ist Fußball mit großem Abstand die teuerste Fernsehware. Von den 475 Millionen Euro, die die ARD 2010 für den Sport aufgewendet hat, ist ein Großteil in Fußballrechte investiert worden. Gleiches gilt für das ZDF. Hier lag der Betrag zwar 100 Millionen Euro niedriger, aber seit der laufenden Saison kommen geschätzte 50 Millionen Euro für die Champions League dazu. Die lief bis zum Frühsommer bei Sat 1 und kostete den Gebührenzahler keinen Cent.

Auch prominente Sportler kritisieren seit geraumer Zeit, die geballte Fußball-Berichterstattung verstelle den Blick auf andere Sportarten, die daher unter Nachwuchsproblemen litten. Zuletzt hat sich unter anderen Diskuswerfer Robert Harting geäußert. Der Olympiasieger von London monierte, eine „breite sportkulturelle Bildung“ finde nicht mehr statt. Auch da hatte Balkausky schon auf die „hundert verschiedenen Sportarten“ verwiesen. Ähnlich reagiert auf Nachfrage nun auch das ZDF: Im Zweiten habe der Sportanteil am Hauptprogramm 2011 bei 5,9 Prozent gelegen. Knapp 13 Prozent dieser Sendezeit habe aus Fußball bestanden. Bezogen auf das Gesamtprogramm habe Fußball damit 0,8 Prozent ausgemacht. Von der Gefahr einer „Abhängigkeit“, wie sie das ARD-Gremium beschreibe, könne also auch beim ZDF keine Rede sein. Zwar wird eingeräumt, man wünsche sich natürlich, dass sich mit Hilfe der Champions League Zuschauer gewinnen ließen, die das Zweite sonst eher selten bis nie einschalteten, aber es sei noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Immerhin hat sich das Spiel Borussia Dortmund gegen Real Madrid als der erhoffte Quotenknüller entpuppt: Die Partie hatte insgesamt gut 9 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von knapp 30 Prozent entsprach, und erreichte gut 24 Prozent der TV-Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren.

Fußball ist schon lange der Volkssport Nummer eins

Natürlich haben kleine Jungs, sofern sie sich für Sport interessierten, schon immer vor allem berühmte Kicker zu ihren Idolen erkoren; Fußball war bereits vor dem „Sommermärchen“ 2006 Volkssport Nummer eins. Allerdings hat sich die Rolle der Medien und gerade des Fernsehens deutlich verändert. Seit Fußballer als Popstars gelten, tauchen sie in allen möglichen Programmbereichen auf. Das drängt andere Sportarten im öffentlichen Bewusstsein an den Rand, und deshalb werden sie auch so genannt: Randsportarten. Alexander Rösner, Chefredakteur und Programmchef des Spartensenders Sport 1, hat jedoch grundsätzliche Einwände gegen diesen Begriff, weil die Einordnung dem gesellschaftlichen Stellenwert etwa der Leichtathletik im Schul- und Breitensport nicht gerecht werde. Kernsportarten von Sport 1, dem früheren  Deutsche Sportfernsehen, seien neben Fußball Handball, Basketball und Eishockey.

Nimmt man die Übertragungen im Fernsehen als Maßstab, ist aber auch die Leichtathletik eine Randsportart. Auf Sportplätzen mit Laufbahn und Sprunggrube tummeln sich werktags bei gutem Wetter zwar deutlich mehr Leichtathleten als große oder kleine Kicker, aber trotzdem stiftet der perfekt vermarktete Fußball Jungs förmlich dazu an, Trikots von Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo zu tragen. Auch Rösner räumt ein, dass Stars heutzutage eine größere Rolle spielten als früher. Es sei ganz wichtig, Persönlichkeiten aufzubauen: „Der Sport braucht Aushängeschilder, mit denen sich die Zuschauer identifizieren können.“ Gleichzeitig, ergänzt ARD-Sportkoordinator Balkausky, „nutzen aber auch immer mehr Sportler die erhöhte Aufmerksamkeit zur eigenen Profilierung und Selbstvermarktung“: Sie reagierten durch einstudierte Jubelgesten zunehmend auf die Präsenz der Fernsehkameras „und beteiligen sich auf diese Weise gestisch und mimisch an der Produktion der besonderen Bilder.“

Anna Kurnikowa als Unterhalterin

Wie wichtig die Medien für die Sportler sind, zeigt die Karriere der ausgesprochen attraktiven früheren russischen Tennisspielerin Anna Kurnikowa: Sie hat als Einzelspielerin nie ein bedeutendes Turnier gewonnen, hatte aber die höchsten Werbeverträge und erzielte die umfangreichste Medienberichterstattung. Spitzensport ist heute Teil der Unterhaltungsindustrie. Wichtiger als die Leistung ist daher nicht selten die Show; und die wird fürs Fernsehen inszeniert.