Die Fußball-EM in der Ukraine ist zwischen die Fronten von Politik, Geld und Moral geraten. Aber der Sport wurde schon immer instrumentalisiert.

Stuttgart - Am 16. Oktober 1968 geht ein Bild um die Welt. Es ist ein Mittwoch bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt. Am Abend findet die Siegerehrung für den 200-Meter-Lauf statt. Die Zeremonie geht in die Geschichte ein. Die Afro-Amerikaner Tommie Smith und John Carlos haben Gold und Bronze gewonnen. Es ist schon dunkel über der mexikanischen Hauptstadt, als die Nationalhymne der USA erklingt. Smith und Carlos senken die Köpfe und recken jeder eine Faust in den Himmel. Sie ist von einem schwarzen Handschuh bedeckt, dem Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Ein Moment für die Ewigkeit.

 

Black Power meets Olympia.

Das Bild der beiden Sportler zeigt eine der bekanntesten Protestaktionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie bleibt nicht ohne Folgen. Noch am selben Abend werden die beiden Athleten aus dem olympischen Dorf geworfen. Sie haben gegen das Grundgesetz des Sports verstoßen: Politische Meinungsäußerung ist nicht erlaubt. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) verbietet jede Art der Stellungnahme im Umfeld der Spiele. Die klinisch reine Bühne soll nicht durch Politik beschmutzt werden. Dies ist das Dogma des Sports.

Das IOC ist der Überbau des Sports. Und die Olympische Charta ist so etwas wie das  Grundgesetz, das in dieser Form für alle Verbände gilt. Dort heißt es: „Jede Demonstration oder politische, religiöse oder rassische Propaganda ist an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen olympischen Bereichen untersagt.“

Das Dogma wird schnell zum Stigma.

Die EM in der Ukraine – ein Lehrstück

So wie jetzt. Wir schreiben das Jahr 2012, in Kiew regiert Viktor Janukowitsch, der hart gegen Oppositionelle vorgeht. Julia Timoschenko ist inhaftiert in Charkow. Die ehemalige Premierministerin der Ukraine und Ikone der Demokratiebewegung ist krank, angeblich wird sie misshandelt. Die westliche Welt, allen voran Deutschland, protestiert neuerdings lautstark gegen die Behandlung. In wenigen Wochen, am 8. Juni, wird in Polen und der Ukraine die EM beginnen. Viele Politiker wollen das Fußballfest boykottieren.

Der Sport ist zwischen die Fronten geraten. Mal wieder. Und wieder fragt sich die Welt, wie politisch der Sport eigentlich sein darf. Wie politisch er sein muss.

Der Sport muss Stellung beziehen, sagen Menschenrechtsorganisationen.

Der Sport darf keine Stellung beziehen, sagen die Sportorganisationen.

Es ist der Kernkonflikt, mit dem sich der Sport konfrontiert sieht, seitdem es ihn gibt. Und es ist seine Lebenslüge, mit der sich die Verbände aus allem herauszureden versuchen, dass man nämlich unpolitisch sei. Der Sport wird in Wahrheit von jeher instrumentalisiert. Für die gute Sache, für die schlechte Sache, für die eigene Sache.

Man könnte es auch Missbrauch nennen. Sport eignet sich wie kaum etwas anderes für Stimmungsmache. Je größer das Sportereignis und die damit verbundene mediale Wahrnehmung ist, desto verlockender ist es, die Bühne mit Debattenbeiträgen zu bereichern. Vieles von dem, was gerade geschieht oder was vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 geschehen ist, vieles von dem also, was immer geschieht, wenn der Sport sich mal wieder problematische Spielstätten ausguckt, ist Heuchelei. Politische Folklore. Die Aufmerksamkeit, die der Fußball oder die Olympischen Spiele generieren, ist ein Schlachtfeld für PR und Populismus.

Wenn die Kanzlerin Mezut Özil in der Kabine besucht

Wenn Politiker auf den Tribünen kameragerecht Tore bejubeln oder wenn Kanzlerin Angela Merkel nach einem Länderspiel gegen die Türkei in der deutschen Kabine fotografisch bestens in Szene gesetzt die Hand von Mesut Özil schüttelt, ist das nichts anderes als eine absichtsvolle Vermischung von Politik und Sport. Speziell in Deutschland hat der Fußball derart an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen, dass gezielte Äußerungen wie jetzt im Umfeld einer EM große Schlagzeilen garantieren. Fußball als politisches Product-Placement.

Die Frage, wie man mit der Ukraine umgeht und wie man dem dortigen Machthaber signalisiert, dass man mit seiner Politik nicht einverstanden ist, ist wichtig. Aber oft klingen die Antworten nach Effekthascherei, nicht nach nachhaltiger Strategie.

Was passiert, wenn die EM vorbei ist? Und wo waren all die Mahner, die nun auch   den irrlichternden Eishockey-Weltverband für sich entdeckt haben, als der bereits im Jahr 2009 die Eishockey-WM mit besten Grüßen nach Weißrussland vergeben hat? Wer wird zum Boykott der Olympischen Winterspiele 2014 aufrufen, wenn das Großereignis in der deutschen Tankstelle Russland zu Gast ist? Wie bedeutsam sind Menschenrechte, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht wie in China, wo im Schnitt alle zwei Jahre zum Beispiel eine Tischtennis-WM stattfindet, ohne dass ein Politiker jemals lautstark protestiert hätte? Und hätte die Politik eigentlich nicht andere, viel mächtigere Hebel als reine Symbolpolitik bei Großereignissen?

Das befreit den Sport natürlich nicht von seiner Verantwortung, auch wenn sich aktuell der Europäische Fußball-Verband (Uefa) in bester Verbandstradition wegduckt und sich hinter seiner politischen Neutralität zu verbarrikadieren versucht. Jeder weiß um die Macht der Bilder einer Fußball-EM, einer Fußball-WM oder von Olympischen Spielen. Umso erschreckender ist, mit welcher Sorglosigkeit regelmäßig Großereignisse in zweifelhaften Ländern landen, weil es vor allem finanzielle Interessen gibt, die wichtiger sind als die politischen Rahmenbedingungen.

Die Sportverbände sind Akteure, ob sie wollen oder nicht

Der Sport und seine Organisationen sind mit ihren Veranstaltungen kein apolitisches Ding aus einer anderen Welt. Sie sind, ob sie wollen oder nicht, Akteure. Die Fifa oder die Uefa oder das IOC haben die besten Propagandaplattformen im Portfolio, die es auf dieser Welt zu kaufen gibt. Und das alles streng ideologiefrei. So ist es in den Statuten verankert. Was gibt es also Schöneres für einen Autokraten, als sich im Glanz eines Ereignisses zu sonnen, das politisch neutral sein will und ihm so eine Bühne ohne Widerspruch bietet?

Thomas Bach, stellvertretender CEO der milliardenschweren Olympia AG in Lausanne, sagt nicht, dass der Sport unpolitisch sei. Bach ist ein kluger Mann, ein brillanter Stratege auf sportpolitischem Parkett – und einer, der weiß, dass es wenig Sinn hat, etwas zu behaupten, was jeder normal denkende Mensch ohnehin nicht glaubt. Aber, so betont er, Sport müsse politisch neutral sein, um nicht zwischen den Lagern aufgerieben zu werden. Wie etwa 1980 und 1984, als der Kalte Krieg die olympische Idee okkupierte und der Konzern mit den fünf Ringen daran zugrunde zu gehen drohte. Hilflos musste er zuschauen, wie erst West, dann Ost die Spiele in Moskau respektive Los Angeles boykottierten – ohne dass dies politisch etwas gebracht hätte. Mal wurde die olympische Idee pervertiert, um rassische Überlegenheit zu demonstrieren (Olympia 1936), mal für die Stärke eines politischen Prinzips, mal dient die Bühne Sport nur einer Art Selbstbefriedigung und Zurschaustellung finanziell potenter Mächte. Sport ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Natürlich kann sich der Sport in politischen Fragen nicht positionieren und die Bühne für alles und jeden frei geben. Denn wo würde man die Grenze ziehen? Der eine fordert auf dem T-Shirt „Free Tibet“, der Nächste „Free Palästina“ und so weiter.

Moralische Mindeststandards sind nicht gewollt

Die Menschenrechte aber sind der größte gemeinsame Nenner dieser Welt, kein Partikularinteresse einer politischen, ethnischen oder religiösen Randgruppe oder von Extremisten, sondern Common Sense unter der Menschheit. Und die Vereinten Nationen des Sports sind die größte länderübergreifende Organisation. Wäre es nicht eine Selbstverständlichkeit, dass die Sportkonzerne die Einhaltung universeller Rechte als Basis ihrer Arbeit verstehen?

Eine Art Corporate Governance, ein Korrektiv also, das etwa Mindeststandards in Sachen Menschenrechte für potenzielle Ausrichterländer festlegt und klare politische No-go-Grundsätze enthält, existiert nicht. Es ist nicht gewollt, weil man offiziell befürchtet, zerrieben zu werden, weil man eine Implosion der Organisation befürchtet – zudem sitzen gerade in Russland, China und der arabischen Welt große Finanziers. So schlittert man sehenden Auges immer wieder in politische Krisengebiete.

China nahm 2008 dankend das Geschenk des IOC an. Die Olympischen Spiele wurden zur perfekten Inszenierung eines modernen, weltoffenen Chinas. Jedwede Kritik am Regime wurde mit dem Verweis auf die Trennung von Sport und Politik abgetan. Als es während der Spiele Ärger wegen zensierter Internetseiten gab und das IOC helfen wollte, wurde es abgekanzelt. Man möge sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen. Der IOC-Präsident Jacques Rogge gab kleinlaut zu, man sei vielleicht ein bisschen naiv gewesen. „Wir sind Idealisten, und Idealismus kann immer zu einer gewissen Naivität führen.“

Naivität? Oder Betriebsblindheit?

China ist das Paradebeispiel für eine mit Hoffnungen überfrachtete Veranstaltung. Großereignisse richten den medialen Fokus auf ein Land. Unterm Brennglas der Weltöffentlichkeit tritt, schon bevor es losgeht, zu Tage, was Machthaber gern verbergen würden: die Schattenseiten. Der Sport wirkt hier als Katalysator für Debatten, die sonst nicht geführt werden würden, und entwickelt eine ungeheure mediale Kraft.

Doch auch das ist eine Momentaufnahme. Im Rausch der Bilder gehen viele Fragen unter, und ist alles vorbei, läuft alles weiter wie vorher. Zumindest war das in China so. Schlimmer: laut Amnesty International habe sich in der Volksrepublik die Situation für Oppositionelle nach den Olympischen Spielen sogar verschlechtert.

Anspruch und Wirklichkeit in der Welt des Sports

Anspruch und Wirklichkeit passen in der Welt des Sports selten zusammen. Sepp Blatter ist Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa. Er träumt seit Langem vom  Friedens-Nobelpreis.  Auch  das  IOC würde sich gegen die Auszeichnung nicht wehren. Fußball, sagt Blatter, sei größer als alle Religionen, nein, besser, er sei die neue Weltreligion. Und das IOC, wie skandalgeplagt auch immer, sieht sich ohnehin über jeden Zweifel erhaben, es hat schließlich das Copyright auf die olympischen Werte. Diese beiden milliardenschweren Global Player werden nicht müde, sportliche Großereignisse als Wegbereiter für Frieden, Freiheit und Wohlstand zu verkaufen. Wenn es irgendwo mit Veränderungen klappt – Sport kann ja tatsächlich Brücken bauen –, wird man dann auch nicht müde, den Beitrag des Sports zu betonen.

Und wenn es Kritik gibt?

Dann regiert Vogel Strauß. Ab in die Gräben, nichts hören, nicht sehen, nichts sagen – und wenn man doch etwas von sich gibt, dann das mantrahafte „Der Sport hat kein politisches Mandat“ – das hat er, siehe oben, ja nur, wenn es Gutes zu berichten gibt. Funktionäre, denen sonst kein Vergleich zu groß scheint, ziehen sich dann schnell zurück auf die bequeme Position des stillen, einflusslosen Beobachters.Speziell der Fußball hatte in der Vergangenheit keine Berührungsängste, wie man bei der WM 1978 in Argentinien sehen konnte. In der Welt der Despoten zu Gast bei Freunden. Wie sorglos gerade die Fifa ist, zeigt auch ein Beispiel aus dem Jahr 1995. Der damalige Fifa-Präsident João Havelange plante, die U-20-WM nach Nigeria zu vergeben, und war zu diesem Zweck in das Land des international geächteten Schlächters Sani Abacha gereist– es ist eine Episode, die Bände spricht.

Der Henker wartet, bis der Ehrengast das Land verlassen hat. So viel Pietät muss sein. Havelange hat dem Diktator Abacha schließlich auch ein Geschenk mitgebracht, eben jene lange versprochene Austragung der U-20-WM. Zum Dank nimmt der Fifa-Pate vor Ort den Ehrentitel „Ekwueme“ im Land entgegen, „Mann, der sein Wort hält“. Zeitgleich wird die Hinrichtung des Schriftstellers Ken Saro-Wiwa und acht weiterer Regimekritiker vorbereitet.

Die Welt ist entrüstet, sie bittet seit Wochen um Gnade für die Männer, Sani Abacha wird mit derartigen Gesuchen bombardiert. João Havelange überbringt „Seiner Exzellenz“ Grüße der Fußballfamilie und ein Fußballturnier und hält sich sonst aus allem raus. Er sagt das, was Funktionäre dann immer sagen: „Sport und Politik dürfen nicht vermischt werden.“

Als João Havelange Nigeria verlässt, werden die neun Männer gehängt.

Die WM wird später aus anderen Gründen verlegt. In diesem Fall hatten die Sportler Glück. Die Athleten sind sonst die Dummen in dem Spiel. Sie bereiten sich teils jahrelang auf diesen einen Höhepunkt vor – und dann finden sie sich regelmäßig auf dem rhetorischen Schlachtfeld der Politik wieder und sollen irgendwas machen. Oder sagen. Oder sonst was. Boykottieren. Anprangern. Zeichen setzen.

Die Organisationen ducken sich weg

Den Sportlern wird eine Last aufgebürdet, die zu tragen andere sich weigern. Mündige Athleten sollen sie sein. Das sagt sich leicht, ist aber eben nicht immer einfach, und es überfordert einen schnell, wenn man sich auf einen Wettkampf konzentrieren muss, vielleicht gar eine Hochrisikosportart ausübt wie etwa Formel 1. Da kommt dann auch manchmal Unfug raus, wenn etwa Berti Vogts bei der WM 1978 in Argentinien zu Protokoll gibt, er habe keine politischen Gefangenen gesehen. Oder es klingt zynisch, wenn ein Sebastian Vettel kürzlich beim Formel-1-Rennen im Chaos von Bahrain ehrlich sagt, dass er sich auf das wirklich Wichtige konzentrieren wolle: „Reifentemperaturen und Autos.“

Man kann diesen Konflikt zwischen Sport und Politik natürlich anders lösen: Der argentinische Trainer Cesar Luis Menotti hat sich zum Beispiel nach dem WM-Sieg 1978 in der Heimat geweigert, die Hand des Diktators Jorge Videla zu schütteln; und dieser Tage hat der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Philipp Lahm, deutliche Worte zur Situation in der Ukraine gefunden.

Aber hilft das? John Carlos, der Mann, der der Welt die Faust gezeigt hat, glaubt das: „Wir haben die Faust erhoben – und auf einmal hat die Welt über die Situation der Schwarzen in den USA gesprochen.“

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