Seit mehr als sechs Wochen dürfen die meisten Schwimmer nicht mehr im Becken trainieren, darunter auch Toptalente wie die Sindelfingerin Marian Plöger. Droht der Sportart „eine verlorene Generation“, wie Landestrainer Farshid Shami fürchtet?

Stuttgart - Marian Plöger muss nicht lange nachdenken, sie weiß es noch genau. „Es war Freitag, der Dreizehnte.“ Am 13. März unternahm die 14 Jahre alte Leistungsschwimmerin des VfL Sindelfingen zum vorerst letzten Mal das, was sie bis dahin täglich stundenlang getan hatte: Sie zog im Schwimmbad ihre Bahnen. Kurz darauf wurden die Sportstätten in Baden-Württemberg geschlossen. Ausnahmen gelten nur für Profisportler und Bundeskaderathleten – nicht aber für junge Toptalente wie Marian Plöger, obwohl die Kraulspezialistin im Mittel- und Langstreckenbereich zu den größten Nachwuchshoffnungen Deutschlands zählt.

 

Seit inzwischen mehr als sechs Wochen kann die Gymnasiastin aus Stuttgart-Degerloch nicht mehr richtig trainieren. Ein bisschen Wasserkontakt verschafft ihr neben der Dusche zwar ein kleiner Schwimmteich im elterlichen Garten, in den sie hin und wieder im Neoprenanzug springt. Ansonsten aber muss die blonde Nachwuchsathletin wie Hunderte weitere ambitionierte Leistungsschwimmer in Baden-Württemberg mit täglichem Joggen, Radfahren oder Athletiktraining versuchen, die Zeit zu überbrücken und körperlich in Form zu bleiben. „Am Anfang fand ich es noch ganz schön, auch mal Zeit für andere Dinge zu haben“, sagt Marian Plöger, „jetzt warten wir aber alle schon lange sehnlichst darauf, wieder im Becken trainieren zu dürfen.“

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Vom Sportverbot, das die Landesregierung vorerst bis einschließlich 3. Mai verfügt hat, sind Athleten sämtlicher Sportarten betroffen. Doch leidet wohl keine andere Disziplin so sehr darunter wie das Schwimmen. Leichtathleten können zur Not statt auf der Tartanbahn im Wald laufen, Ruderer statt im Boot auf dem Ergometer trainieren. Für Schwimmer aber gibt es keinen Ersatz für das Training im Wasser, dessen spezifische Eigenheiten sich nicht simulieren lassen. „Die Schwimmer sind derzeit wie Fische an Land“, sagt Farshid Shami, der Landestrainer von Baden-Württemberg.

Auch Weltklasseathleten berichten immer wieder davon, dass das Wassergefühl schon nach ein paar Tagen ohne Training verloren gehe und mühsam zurückerlangt werden müsse. Erschwerend hinzu kommt, dass es neben dem Turnen wohl kaum eine andere Sportart gibt, in der das Trainingspensum schon in jungen Jahren derart gewaltig ist wie im Schwimmen. Marian Plöger kam bislang auf sechs drei- bis vierstündige Einheiten pro Woche, andere trainieren bis zu zehnmal, also auch schon vor der Schule. „Wer später erfolgreich sein will, muss in der Jugend mit knüppelharter Arbeit die Grundlagen legen, sonst hat man keine Chance“, sagt Farshid Shami.

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Eine seriöse Karriereplanung im Schwimmen ist nicht auf kurzfristige Erfolge ausgerichtet, sondern basiert auf einem jahrelangen, akribisch geplanten Leistungsaufbau. Die wochenlange Zwangspause während der Corona-Pandemie bereitet dem Landestrainer daher größte Sorgen. „Was junge Athleten jetzt verpassen, lässt sich normalerweise nicht mehr aufholen“, sagt Shami und vergleicht die Karriere eines Schwimmers mit der eines Häuslebauers, der über viele Jahre hinweg fleißig spart, um irgendwann die Früchte ernten zu können: „So wie bei ihm jeder Euro zählt, zählt beim Schwimmer jeder Kilometer.“

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Jeder Tag, der ohne Training im Becken vergeht, verschärft die Situation – mit möglicherweise fatalen Folgen. „Das Coronavirus könnte dazu führen, dass wir eine verlorene Generation an Talenten haben werden“, sagt Shami und hofft inständig darauf, dass die Politik die Verbote möglichst bald lockert. Pläne für die Wiederaufnahme des Trainings unter Corona-Bedingungen, also in Kleingruppen und unter strengen hygienischen Auflagen, hat der promovierte Sportwissenschaftler und Trainer früherer Olympiateilnehmer längst erstellt. „Es wäre kein Problem, die Ansteckungsgefahr in einem Schwimmbad zu minimieren“, sagt Shami. So wird es an einigen deutschen Olympiastützpunkten praktiziert, auch im Ausland haben Schwimmer teilweise die Möglichkeit zu trainieren – und sich einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen.

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Landeskaderathletin Marian Plöger verdrängt den Gedanken daran, was sie derzeit alles verpasst – nicht nur die Hunderte von Trainingskilometern, sondern auch die Wettkämpfe, die möglichen Medaillen und weiteren Schritte auf der Karriereleiter. Bei den deutschen Jahrgangsmeisterschaften in Berlin wollte sie im Mai ihre Titel über 800 und 1500 Meter Freistil verteidigen, bei den Freiwassermeisterschaften in Strausberg im Juni wieder die Goldmedaille über 2,5 Kilometer gewinnen. Auch das Debüt auf der internationaler Bühne, bei den Junioren-Europameisterschaften im schottischen Aberdeen im Juli, schien in diesem Jahr möglich. Doch sind längst alle Veranstaltungen abgesagt. Beim Deutschen Schwimm-Verband (DSV) geht man inzwischen davon aus, dass frühestens im Herbst wieder Wettkämpfe möglich sind.

Ein schwacher Trost ist es für Marian Plöger, dass sie jetzt viel mehr Zeit als sonst hat, sich mit Mathematik, Physik oder Geschichte zu beschäftigen. Denn eine Einser-Schülerin war sie schon vor der Corona-Krise.