Die Ureinwohner von Taiwan wollen ihre Sprache retten. In manchen Fällen sind die Chancen äußerst gering. Doch die Taiwanesen hoffen auf die Parlamentswahl am Samstag .

Taipeh - Als Kind wohnte Saiviq Kisasa mit ihrer Familie in Taitung im Südosten Taiwans am Pazifik. Lange wusste sie nicht, was es bedeutete, eine Paiwan zu sein. „Meine Mutter hat nie unsere Sprache mit mir gesprochen“, sagt Kisasa, die heute Sprachforscherin ist. „Sie hatte Angst, ich würde diskriminiert oder gar bestraft werden.“ Deshalb trug die 38-Jährige früher einen chinesischen Namen. Heute verwendet sie stolz ihren Paiwan-Namen, der sie als Ureinwohnerin Taiwans ausweist. „Das machen aber nicht viele“, sagt Kisasa, „auch weil unsere Namen so lang sind und schwierig in chinesische Zeichen umzuschreiben.“

 

Was international kaum bekannt ist: Taiwan, das von der Volksrepublik China beansprucht wird, ist keineswegs ein rein chinesisches Land. Die Chinesen kamen erst vor 400 Jahren vom Festland auf die Insel, die bis dahin über mehrere Tausend Jahre hinweg fest in der Hand indigener Volksgruppen war. Ethnisch und sprachlich haben diese mit den Chinesen nichts zu tun, sondern zählen zu den austronesischen Völkern. Deren Siedlungsgebiet erstreckt sich von Taiwan im Norden zu den Osterinseln im Osten bis nach Neuseeland im Süden und nach Madagaskar im Westen.

Die eingewanderten Chinesen dominieren Taiwan

Heute sind es aber die eingewanderten Chinesen, die die 23-Millionen-Einwohner-Nation wirtschaftlich, politisch und kulturell dominieren. Ureinwohner wie die Paiwan machen je nach Definition nur zwei bis drei Prozent der Bevölkerung aus.

Von den früheren Herrschern über Formosa – „die Schöne“, wie Taiwan lange genannt wurde – stiegen sie nach mehreren Kolonialisierungswellen seit dem 17. Jahrhundert zu Bürgern zweiter Klasse ab. Erst waren es die Niederländer, später die Chinesen und Japaner, die die Ureinwohner unterdrückten und in immer unwirtlichere Regionen verdrängten. Taiwans Ureinwohner zählen nun zu den ärmsten und am schlechtesten gebildeten Schichten der Gesellschaft.

Die Paiwan, zu denen die junge Sprachforscherin Kisasa gehört und die im Süden der süßkartoffelförmigen Insel leben, sind mit 86 000 Angehörigen die drittgrößte von 16 anerkannten indigenen Gruppen; 14 weitere kämpfen noch um den offiziellen Status.

Kleine Schritte zu mehr Gleichberechtigung

Kisasa arbeitet seit Juni 2015 in Taipeh in einem Sprachenzentrum für indigene Sprachen. Dass es ein solches Zentrum überhaupt gibt, ist ein kleiner Schritt zu mehr Gleichberechtigung der Ureinwohner. Von den fünfziger bis in die achtziger Jahre sei es der Urbevölkerung verboten gewesen, im öffentlichen Raum, wie in Schulen, ihre eigene Sprache zu sprechen, erklärt Haisul Palalavi, ein Kollege von Kisasa von der Gruppe der Bunun. Zu dieser Zeit war nur Hochchinesisch zugelassen; selbst Taiwanisch, das sich unter den frühen Einwanderern aus China herausgebildet hatte, war verboten. Das erklärt auch die Angst von Kisasas Mutter, ihrer Tochter die Sprache der Paiwan beizubringen.

Erst in den achtziger Jahren, als Taiwan das Kriegsrecht abschaffte und eine starke Demokratiebewegung das Land rasant veränderte, wagten die Ureinwohner, mehr Rechte einzufordern. In den Neunzigern begann die Regierung diese zu unterstützen. Sie richtete zum Beispiel eine eigene Behörde für die Urbevölkerung ein. Im Jahr 2000 schaffte es ein Vertreter der Bunun aus dem zentralen Bergland Taiwans erstmals auf einen Ministerposten. „Dieser war maßgeblich daran beteiligt, die Lage der indigenen Gruppen zu verbessern“, sagt Palalavi.

Mehr Rechte für die Ureinwohner

Ein weiterer Schritt vorwärts war ein einschlägiges Grundlagengesetz 2005. Dieses regelt zum Beispiel, dass der Staat nicht mehr einfach Grundstücke beschlagnahmen darf. Früher hatte das unter anderem dazu geführt, dass auf Lanyu, auf Deutsch Orchideeninsel, vor der Ostküste Taiwans 1982 eine Deponie für Atommüll gebaut wurde – auf dem Gebiet der indigenen Tao. Deren Proteste waren damals fruchtlos verhallt. Heute muss der Staat bei neuen Projekten die Erlaubnis einholen.

Außerdem sind Schulen mit indigenen Schülern nun gesetzlich verpflichtet, wenn auch nur in geringem Maße, Unterricht in Ureinwohnersprachen zu geben. Die Zeit drängt: Laut dem Atlas der gefährdeten Sprachen der Unesco gehören die meisten Sprachen der taiwanischen Ureinwohner zu denen, die in einer Generation aussterben könnten. Für zehn Sprachen ist es bereits zu spät, weitere sind stark gefährdet. Bei einer der kleinsten Gruppen, den Hla’lua, gibt es nur noch einen einzigen aktiven Sprecher, bei einer weiteren noch drei Lehrer, alle Senioren.

Neue Wörter für die alten Sprachen

Das Sprachenzentrum in Taipeh kämpft daher mit Sprachlehrern im ganzen Land darum, die aussterbenden Sprachen zu bewahren. Kisasa erstellt zum Beispiel passende Unterrichtsmaterialien. Ein Kollege hat eine CD mit Kinderliedern eingesungen. Außerdem übertragen sie neue Wörter wie „Hochgeschwindigkeitszug“ in indigene Sprachen und verbreiten sie über das Internet und einen eigenen, von Ureinwohnern geführten Fernsehsender. Es gibt Sprachlehrer, die indigene Familien zu Hause besuchen.

Inzwischen hat die taiwanische Tourismusbehörde das Potenzial der Ureinwohner erkannt. So gibt es heute kaum eine Werbekampagne ohne eine solche Gruppe, stets in farbenfrohen Trachten. Sie haben damit Erfolg: Nach Angaben der Zeitung „Taipeh Times“ nahmen seit Ende 2014 mehr als 150 000 Touristen vom chinesischen Festland an Touren zu Ureinwohnern teil, Tendenz stark steigend. Wer Mitte November am Flughafen Taoyuan bei Taipeh ankam, wurde von zwei Frauen in bestickten Kostümen und mit auffallendem Kopfschmuck indigener Gruppen begrüßt. Sie spannten ein Banner auf und ließen sich mit Touristen fotografieren.

Leise keimende Hoffnung auf mehr Anerkennung

Manche Ureinwohner sind skeptisch. „Unsere Kultur wird ausgenutzt“, findet Lalu Daha, eine Aktivistin der Taiwan First Nations Party und von der Gruppe der Kaxabu. „Manchmal werden dort Leute eingesetzt, die nicht einmal echte Ureinwohner sind.“ Sie selbst gehört zu denen, die noch um die offizielle Anerkennung ringen. Chen Jin-wan von den Ketagalan, die ebenfalls noch nicht anerkannt sind, fordert, dass der Staat mehr Informationen über die Urbevölkerung in den Lehrplan aufnimmt. „Die Taiwaner wissen nichts über uns!“, sagt Chen.

Bei allen Problemen, die es noch zu lösen gilt, ist die Forscherin Kisasa zuversichtlich. Sie hat einen Stimmungswandel beobachtet: „Immer mehr Ureinwohner sind nun stolzer auf ihre eigene Kultur.“ Auch die Aktivistin Lalu Daha hat Hoffnung geschöpft. Die Präsidentschaftskandidatin der Oppositionspartei, Tsai Ing-wen, dürfte sehr wahrscheinlich die Wahlen an diesem Samstag für sich entscheiden. Diese hatte im Sommer versprochen, auch die noch nicht anerkannten Ureinwohner zu akzeptieren.