Schlimmer kann es für Eltern und andere Verwandte wohl kaum kommen. Ein Kind verschwindet. Und wird nie gefunden, weder lebend noch tot. Was bleibt, ist nur vollständige Ungewissheit.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart/Berlin - Zwölf Jahre alt ist Manuel Schadwald aus Berlin-Tempelhof am 24. Juli 1993. Von zu Hause aus macht er sich an dem Samstag auf den Weg ins Freizeitzentrum FEZ, rund zehn Kilometer entfernt gelegen im Stadtteil Köpenick. Der Junge nimmt vermutlich öffentliche Verkehrsmittel. Genau weiß man es nicht. Denn im FEZ kommt er nicht an. Und auch sonst wird der hübsche Junge mit den etwas längeren dunklen Haaren nie wieder gesehen.

 

Seit 25 Jahren ist Manuel Schadwald verschwunden. Anfangs sucht die Polizei intensiv nach ihm. Ohne Erfolg. Dass der Junge sich nur verlaufen hat oder verunglückt ist und bis heute nicht gefunden wurde, glaubt eigentlich niemand. „Ein Ermittlungsverfahren wird geführt wegen Verdachts auf ein Tötungsdelikt“, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin. Das Verfahren im Fall Manuel Schadwald laufe aber schon lange. „Es gibt keine neuen Erkenntnisse.“

1964 ungeklärte Fälle in Deutschland

In Deutschland werden vermisste Kinder und Jugendliche in der Vermisstenstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Kriminalämter der Länder (LKA) „Vermisste/Unbekannte Tote“ erfasst. Insgesamt sind 1964 ungeklärte Fälle vermisster Kinder erfasst (Stand Februar 2018). Das bezieht sich auf die Jahre von 1951 bis heute.

Mehr als die Hälfte der Kinder sind laut BKA Ausreißer und unbegleitete Flüchtlinge. „Bei dem verbleibenden Teil der vermissten Kinder ist zu befürchten, dass diese Opfer einer Straftat oder eines Unglücksfalls wurden, sich in einer Situation der Hilflosigkeit befinden oder nicht mehr am Leben sind“, schreibt das BKA. In knapp 70 Jahren könnten das viele hundert Kinder sein.

Spuren im Nichts

Mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche werden nach Angaben der Initiative Vermisste Kinder in Hamburg jedes Jahr in Deutschland als vermisst gemeldet. Die Hälfte der Fälle klärt sich laut BKA innerhalb der ersten Woche auf, nach einem Monat sind 80 Prozent gelöst.

„Der Anteil der Personen, die länger als ein Jahr vermisst werden, bewegt sich bei nur etwa drei Prozent“, heißt es beim BKA. Das heißt aber auch, dass pro Jahr zahlreiche Menschen, darunter auch Kinder, komplett verschwinden. Täglich werden in der Fahndungsdatei des BKA in Wiesbaden 200 bis 300 Fahndungen neu erfasst oder gelöscht. Die Polizei ist europaweit vernetzt: Europol, BKA und LKAs gehen jedem Hinweis nach.

In der BKA-Vermisstenstelle wird jedes Schicksal detailliert erfasst. Wenn sich die Spuren im Nichts verlieren, müssen die Ermittler davon ausgehen, dass der Minderjährige verunglückt oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.

„Vermisste, unbekannte Tote, unbekannte hilflose Personen“

In der Polizeidienstvorschrift (PDV) 389 „Vermisste, unbekannte Tote, unbekannte hilflose Personen“ ist genau geregelt, wie bei Vermisstenmeldungen vorzugehen ist. Minderjährige dürfen demnach ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen. Wenn erforderlich, läuft eine Großfahndung an.

Reicht das Personal einer Dienststelle nicht aus, wird die Hilfe der Bereitschafts- und Bundespolizei angefordert. Hunderte Beamte durchkämmen dann die Gegend, in der ein Minderjähriger verloren gegangen ist oder vermutet wird.

Mit modernsten kriminologischen Methoden wird heute nach Vermissten gefahndet. Enorm belastend für viele Familien ist das „Age processing“, ein aus den USA stammendes Fahndungsverfahren: Fotos von dauerhaft vermissten Kindern werden am Computer an das tatsächliche Alter der Verschwundenen angepasst und so ein aktualisiertes Fahndungsfoto erstellt.

Die Eltern sehen ihr vermisstes Kind auf dem Bildschirm älter werden. Sollte das verschwundene Kind nach Jahren tatsächlich noch leben, hätte sich sein Aussehen frappierend verändert.

Was bleibt, ist nur die Erinnerung

Manchmal findet man die Leiche. Dann können die Angehörigen zumindest ihr Familienmitglied beerdigen und Abschied nehmen. Einige Vermisste tauchen aber nie wieder auf, weil sie in einem Baggersee ertrunken oder in einem Steinbruch verschüttet worden sind.

Das Bundeskriminalamt schreibt: „Falls eine Vermisstensache nicht aufgeklärt wird, bleibt die Personenfahndung bis zu 30 Jahre bestehen.“ Danach bleibt nur noch die Erinnerung.