Am Nationalfeiertag muss nicht alles staatstragend daherkommen: Baden-Württemberg präsentiert sich offen und modern. Und der Bundespräsident findet gute Worte dafür, wie Deutschland auch die Zukunft meistern kann.

Stuttgart - Die Festgemeinde trägt ganz überwiegend dunkles Tuch, ist im sehr gesetzten Alter und immer noch vor allem männlich. Das merkt man schon daran, dass zwischen der ganzen Politprominenz, den Vertretern aus Bund und den Ländern, der Justiz und der Kirchen ein gutes Dutzend junger Leute in der Stuttgarter Liederhalle sofort auffällt. Sie kommen aus ganz Deutschland und haben „Gemeinsam 23“, die offizielle Zeitung zum Tag der Deutschen Einheit gemacht. Nun sind sie unter den mehr als tausend geladenen Gästen beim Festakt und stolz, dabei sein zu dürfen. Mara Schmitz etwa aus Köln oder Hager Ali aus Frankfurt, deren Augen unter ihrem elegant drapierten Kopftuch leuchten. Ihre Eltern stammen aus Ägypten, aber sie sagt von sich: „Ich fühle mich in Hessen daheim.“ Die Schüler und Studenten finden das Motto des diesjährigen Feiertages sehr passend. „Wir haben eine große Vielfalt, aber wir gehören zusammen“, sagt Charlotte Geißler.

 

Im Saal ist so viel Prominenz zu sehen wie sonst selten in Stuttgart. Die Kanzlerin Angela Merkel ist da, der Bundestagspräsident Norbert Lammert und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Auch der liberale Außenminister Guido Westerwelle schaut auf seiner Abschiedstournee nach der UN-Vollversammlung in New York noch auf einen Sprung vorbei. Und auffällig ist eigentlich nur, dass der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer fehlt. Ob der einfach etwas Besseres vorgehabt hat – oder ob er noch grübelt, wie er von seiner Ankündigung wieder herunterkommt, er setze sich nicht mit dem Grünen Jürgen Trittin zu Sondierungsgesprächen an einen Tisch?

Ein unpolitischer Farbtupfer in Rosa

Einen ganz unpolitischen Farbtupfer setzt ein Stuttgarter Heimkehrer. Harald Glööckler, der einst in der Eberhardstraße sein erstes schrilles Modegeschäft hatte, trägt festliches Rosa; Gehrock, zu silbernen Stiefeln mit Blockabsätzen. Er schreitet langsam durch die Reihen und genießt seinen Auftritt – wobei die Politik allerdings erkennbar ein bisschen mit diesem Paradiesvogel fremdelt.

Ein Festakt ist, wie der Name schon sagt, festlich. Aber erkennbar ist das Bemühen Baden-Württembergs, die Feierstunde nicht steif und schwer, sondern modern, bunt, leicht zu gestalten. Das gelingt mit einem Programm, durch das sich als musikalischer Faden der zweite Satz von Josef Haydns Kaiserquartett zieht – der die Grundlage für das Deutschlandlied ist. In Adaptionen und Variationen verbindet die Musik die Programmpunkte, geleitet mal Tänzerinnen und Tänzer, mal Rapper, unterlegt Gesprächssequenzen und Bilderfolgen von der Videoleinwand. Nur junge Leute stehen auf der Bühne. Es gibt keinen Moderator, der durch die Veranstaltung führt, sondern eine weibliche Stimme aus dem Off kündigt die Reden von Winfried Kretschmann und Joachim Gauck an. Nicht einer der zwölf befrackten Saaldiener des Bundestags, die eigens zum Fest nach Stuttgart gekommen sind, sondern ein junger Tänzer in roten Jeans und blauem T-Shirt stellt ihnen ein Glas Wasser aufs Pult.

Kretschmann ganz unphilosophisch

Von Kretschmann, der als Bundesratsvorsitzender die Honneurs macht, weiß man, dass er ein Faible für die Philosophie hat. Doch in seiner Rede beschränkt er sich auf die Erinnerung an den „historischen Glücksfall, dass die deutsche Einigung im Einvernehmen mit den Nachbarstaaten gelang und eingebettet war in das Zusammenwachsen Europas“. Er beschwört die „bunte Republik“, ihre bereichernde Vielfalt und erinnert daran, dass der Bund mehr als die Summe seiner Länder sei und auch die Länder mehr als nur Teilgebiete des Bundes darstellten.

Erkennbar aber liegt dem Regierungschef des Landes ein anderes Thema am Herzen: der Länderfinanzausgleich. Das ist dann schon ziemlich prosaisch an solch einem Tag, wird aber vom Publikum durchaus mit Beifall honoriert. Denn Kretschmann nutzt die Gelegenheit zu mahnen, einen neuen Anlauf für eine dritte Föderalismuskommission zu unternehmen. „Lassen Sie uns dabei das zu beackernde Feld nicht zu eng und kleinmütig abstecken“, fordert der Ministerpräsident und bricht eine Lanze für den Föderalismus, dessen Sinn in einer möglichst bürgernahen Politik und Verwaltung liege. „Föderalismus heißt nicht Trägheit und Erstarrung“, ruft er ins Publikum, sondern es gehe darum, Einheit zu schaffen, ohne die Vielfalt zu gefährden. Und damit auch die von weit her Angereisten wissen, wie ein schwäbischer Regierungschef die Herausforderungen auf diesem Gebiet buchstabiert, macht er noch mal klar: „Das heißt, für die nächsten Jahre schaffe, damit wir es schaffen.“ Das ist keine leichte Kost für einen nationalen Festtag. Doch Kretschmann schafft den Bogen und bringt die Lacher noch auf seine Seite mit einem Wahlspruch der Hohenzollern aus Schillers „Wilhelm Tell“: „Daheim regierten sie sich fröhlich selbst, nach altem Brauch und eigenem Gesetz.“ Die fröhliche Regierung werde jetzt von der Kanzlerin gezimmert, sagt er, derweil die Einheit in Stuttgart fröhlich gefeiert wird.

Als Höhepunkt Gaucks Rede

Höhepunkt ist an solch einem Tag natürlich die Rede Joachim Gaucks. Der Bundespräsident kann wie kaum ein anderer über die bewegenden und aufwühlenden Wochen und Monate des Bürgeraufstands in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands reden. Doch dieses Mal belässt er es bei wenigen Worten über die Freiheitsglocken, die vor 23 Jahren um Mitternacht die deutsche Wiedervereinigung einläuteten und die er noch immer im Ohr habe. Und er erinnert auch kurz an die Bereitschaft zur Verantwortung, den Entscheidungsmut und die Improvisationsfähigkeit damals, „um Freiheit in der Freiheit zu gestalten“.

Gaucks Rede an die „lieben Landsleute und Freunde Deutschlands“ ist nicht rückwärtsgewandt, sondern geht in die Zukunft, für die er drei Herausforderungen sieht: den demografischen Wandel, die digitale Revolution und die wachsende Verantwortung Deutschlands in der Welt. In seiner Ansprache benennt der Bundespräsident die Probleme so deutlich, wie man das im Wahlkampf nicht gehört hat. Und er benennt seine „Grundmelodie: Ich sehe ein Land, das als Nation ,Ja‘ sagt zu sich selbst, das das Mögliche tut, solidarisch im Inneren wie nach außen.“

Und dann kommt noch das Lied, das Gänsehaut macht: Der wunderbare große Staatsopernchor singt „Einigkeit und Recht und Freiheit . . .“, so stark, so metallisch hat man das lange nicht gehört. Alle stehen auf und singen die Strophe noch einmal gemeinsam. Ein wahrer Festakt.