In Freiburg ist ein Staatsanwalt wegen Rechtsbeugung zu einem Jahr und vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Der 55-Jährige fühlte sich heillos überlastet. Der Fall wirft ein trübes Licht auf die Justiz.

Region: Verena Mayer (ena)

Freiburg - Der Saal römisch vier im zweiten Obergeschoss des Freiburger Landgerichts ist voller als sonst. Viele der Zuschauer arbeiten für die Justiz, einige sind auch nur aus Neugierde da, weil dieser Fall so ungewöhnlich ist. Die Attraktion des Tages sitzt auf einem Bürostuhl hinter einem großen Tisch aus Holz. Ein Mann von 55 Jahren, Brille, Vollbart, verheiratet, drei Kinder. Einen Mann von Format nannte man ihn früher. Doch der Mann hinter dem großen Tisch aus Holz ist sehr blass und sieht sehr erschöpft aus. Früher hat er Verbrechern selbst den Prozess gemacht. Fast 20 Jahre lang arbeitete Stephan Z. hier in Freiburg als Staatsanwalt. Nun sitzt er auf der Anklagebank. Stephan Z. muss sich wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt verantworten, weil er irgendwann aufgehört hat, wirklich alle Verbrechen zu verfolgen. Einige Täter sind deshalb ungestraft davon gekommen, andere mit einem milden Urteil.

 

Um 14.15 Uhr wird in Saal römisch vier das Urteil über Stephan Z. verkündet. Doch eins kann man schon vor der Entscheidung sagen: Dieser Fall ist eine Tragödie.

Der Fall beginnt im Sommer 2012 mit dem Anruf eines Anwalts bei der Freiburger Staatsanwaltschaft. Auf dem Schreibtisch von Stephan Z. liegen seit mehr als einem Jahr die Unterlagen zu einer Sexualstraftat. Ein Mann hatte im März 2011 seine 16-jährige Stieftochter betrunken gemacht und als sie eingeschlafen war missbraucht. Von der Tat gab es Fotos, vom Täter ein Geständnis. Als der Anwalt des Mädchens in jenem Juni 2012 bei der Staatsanwaltschaft anruft, will er wissen, wann denn endlich mit der Anklage zu rechnen sei. Weil Stephan Z. im Urlaub ist, landet die Frage bei seinem Abteilungsleiter. Beim Blick in den Computer stellt dieser fest: Stephan Z. hat das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Damit, so drückt es Klaus Armbrust aus, der vor dem Landgericht die Anklage vertritt, war das „System Z.“ aufgeflogen.

Stephan Z. wird suspendiert, die Kollegen der internen Revision prüfen seine Fälle und schicken 30 Akten zu den unbefangenen Kollegen nach Karlsruhe. Als am 19. November des vorigen Jahres vor der Zweiten Großen Strafkammer schließlich der Prozess beginnt, sind inklusive der alles auslösenden Sexualstraftat sieben pflichtwidrig bearbeitete Fälle übrig. Einen stellt das Gericht später angesichts der anderen Taten ein.

Stephan Z. ließ einen Autoschieber laufen

Stephan Z. bearbeitete die 176 Anzeigen gegen eine Frau, die wie wild Geschirr, Schminkkoffer, Spielsachen und allerhand anderes im Internet bestellte, ohne zu bezahlen, so nachlässig, dass ihre Betrügereien verjährten. In einem vergleichbaren Fall, dieses Mal war ein Mann der notorische Besteller, konnte die Verjährung gerade noch verhindert werden. Stephan Z. ließ einen Autoschieber laufen, obwohl es viele Beweise gegen ihn gab. Auch seine Tat verjährte. Stephan Z. unternahm nichts gegen einen Krankenpfleger, der seine Kollegin mit vergiftetem Müsli beinahe umgebracht hatte, obwohl es ein Geständnis des Täters gab. Er kam, nachdem der Fall in Stephan Z.s Akten aufgetaucht war, mit einem milden Strafbefehl davon. Ein Türsteher, der einen Mann lebensgefährlich verletzt hatte, wäre trotz seines Teilgeständnisses beinahe ganz ungeschoren davon gekommen, weil Stephan Z. den Fall nicht zügig genug bearbeitet hatte. Auch diese Strafe fiel wegen der langen Wartezeit zu Gunsten des Angeklagten weniger streng aus. Ebenso kam der böse Stiefvater mit einer gnädigen Bewährungsstrafe davon. Alle Fälle ereigneten sich in der Zeit zwischen 2005 und 2012.

In einem normalen Wirtschaftsunternehmen wäre Stephan Z. wahrscheinlich so geräuschlos wie möglich entlassen worden. Ein Angestellter, der seine Arbeit nicht vorschriftsmäßig erledigt, schadet seiner Firma. Ein Strafverfolger jedoch, der Straftaten nicht verfolgt, schädigt das System. Wenn Delinquenten nicht zur Rechenschaft gezogen werden und Geschädigten keine Gerechtigkeit widerfährt, wozu braucht es dann die Justiz? Der Oberstaatsanwalt Klaus Armbrust sagt: „Das Verhalten des Herrn Z. erschüttert das Vertrauen der Gesellschaft in unser Rechtswesen.“

Nach allem, was in dem Prozess gesprochen wurde, kann man sagen: Stephan Z. ist ein Staatsanwalt wie aus dem Lehrbuch gewesen. Engagiert, zupackend, im Gerichtssaal souverän. Wer ihn einen „harten Knochen“ nannte, meinte das anerkennend. 8600 Fälle hat er von 2005 bis 2012 bearbeitet. Irgendwann, so scheint es, haben die Aktenberge den Beamten unter sich begraben. Stephan Z. gibt zu, dass er die strittigen Fälle nicht so behandelt hat, wie er es hätte tun müssen. Aber niemals, so versichert er wieder und wieder, weil er Strafen vereiteln wollte, sondern weil ihm die Zeit fehlte.

Überlastung durch zwei große Fälle

Zu seinen vielen Verfahren in Freiburg – 2005 waren es 1308 neue Fälle, 2006 bereits 1475 und 2007 schließlich 1571 – kamen schließlich noch zwei große Fälle in Offenburg. Für den Spezialeinsatz war Stephan Z. zu einem Drittel von seiner eigentlichen Arbeit freigestellt. Doch im Arbeitsalltag brachte ihm das keine Entlastung. Die Arbeit aus Offenburg kam obendrauf. Erwiesenermaßen arbeitete er ein Drittel mehr. Stephan Z. betont immer wieder, dass er seine Fehler korrigieren, die unordentlichen Verfahren ordnungsgemäß zu Ende bringen wollte. Dazu kam es nicht.

Die Meinungsforscher aus Allensbach haben vor zwei Jahren herausgefunden, dass ein erschreckend großer Teil der Richter und Staatsanwälte in Deutschland beklagt, zu wenig Zeit für ihre Verfahren zu haben. Fast alle der Befragten sehen die hohe Qualität der Rechtsprechung in Gefahr, sollten sie nicht mehr Kollegen bekommen. Wie zum Beleg wurden in Heilbronn kurz nach der Veröffentlichung der Zahlen fünf berüchtigte Dealer aus der Untersuchungshaft entlassen: Das Landgericht hatte keine Zeit für den Prozess gefunden. Wie sich herausstellte, mussten aus demselben Grund zwischen 2003 und 2014 in ganz Baden-Württemberg 82 Untersuchungshäftlinge auf freien Fuß gesetzt werden. Sieben von ihnen sind daraufhin untergetaucht.

Das Justizministerium analysierte (mit veralteten Zahlen) emsig, wie es um den Personaldeckungsgrad seiner ordentlichen Gerichtsbarkeit und den Staatsanwaltschaften bestellt ist und kam dann zu dem Ergebnis, dass Belastungssituationen großteils von „nicht steuerbaren Zufällen“ abhängen. Das Ministerium regte eine bessere Kommunikation zur besseren Planung an, gab die Ermittlung neuer Zahlen in Auftrag und versicherte: „Bei der Sicherheit und der schnellen und bürgernahen Rechtsgewährung werden keine Abstriche gemacht.“

Die Akten türmen sich immer höher

Und dennoch haben vor drei Monaten erst Richter aus – Achtung – Heilbronn das Ende ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit beklagt und mindestens drei neue Stellen gefordert. Und noch immer kommt Matthias Grewe, der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte in Baden-Württemberg nicht umhin, eine „unzureichende Dimension des Rechtsstaats an dieser Stelle“ zu konstatieren. Und trotzdem geißelt sogar der Oberstaatsanwalt Klaus Armbrust in Freiburg, die „ständige Überbeanspruchung“ eines Staatsanwalts: „Überstunden werden vorausgesetzt, Freizeitausgleich ist nicht vorgesehen. Nur wer das aushält, bleibt dem Beruf treu.“

Ist Stephan Z. kein Täter, sondern ein Opfer? Ein Beamter, gefressen vom System, wie sein Verteidiger Ulf Köpcke meint?

Die Akten im Büro von Stephan Z. türmen sich im Laufe der Jahre zu so unübersichtlichen Gebirgen, dass ihn sein Vorgesetzter mehrfach ermahnt aufzuräumen. Doch das tut Stephan Z. nicht. Er braucht die Schriftbündel, wie er sagt, um sie irgendwann tatsächlich abarbeiten zu können. Bis dahin sorgt Stephan Z. nur im Computersystem für Ordnung. Mal gibt er darin vor, Anklage erhoben zu haben, mal stellt er zum Schein ein Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts ein, mal aus anderen Gründen. Damit gelten die Verfahren als erledigt. Sie werden aus dem elektronischen Register ausgetragen, und Stephan Z. muss sich nicht schriftlich rechtfertigen, warum er mit seinen Verfahren nicht hinterher kommt. Tatsächlich schlummern sie auf seinem Schreibtisch weiter. Und die Geschädigten sowie die Beschuldigten warten und warten und warten. Bis sich im Juni 2012 dann der Anwalt der missbrauchten Stieftochter meldet.

„Warum hat er sich nicht helfen lassen?“

„Warum hat er sich nicht helfen lassen?“, fragt der spürbar ratlose Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer. Nach elf Verhandlungstagen fordert Klaus Armbrust eine eineinhalbjährige Haftstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden soll, sowie eine Geldauflage von 6000 Euro. „Gibt man seine Überlastung zu, wenn man so angesehen ist wie Herr Z. es war?“, erwidert sein Verteidiger Ulf Köpcke. Er fordert einen Freispruch. Stephan Z. habe seine Fehler korrigieren wollen, die in keinem Fall eine öffentliche Wirkung gezeitigt hätten. Stephan Z. habe gerade nicht gehandelt, um Recht zu beugen.

Tag zwölf des Prozesses, 14.15 Uhr. In Saal römisch vier verkündet der Vorsitzende Richter der Zweiten Großen Strafkammer das Urteil: Schuldig! Stephan Z. wird zu einer Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt.

Stephan Z., so erklärt der Richter Alexander Schöpsdau, sei vom Jahr 2008 an nicht mehr so belastet gewesen, als dass er die offenen Fälle nicht hätte bearbeiten können. Dass er es nicht getan hat, habe sich in allen Fällen zu Gunsten der Beschuldigten ausgewirkt. Hinzu komme, dass Stephan Z. die Akten nicht einfach nicht bearbeitet, sondern aktiv manipuliert habe. „Der Kammer“, schließt ihr Vorsitzender nach seiner mehr als einstündigen Urteilsbegründung, „erschlossen sich keine rational nachvollziehbaren Gründe für das Verhalten von Stephan Z.“

Stephan Z. muss – wenn das Urteil rechtskräftig wird – nicht ins Gefängnis, seine Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Aber er verliert seinen Beamtenstatus. Sein Gehalt, das während seiner Suspendierung weiter bezahlt wurde, fällt weg. Er muss die Kosten des Verfahrens bezahlen, er verliert große Teile seiner Altersvorsorge und er hat eine sehr ungewisse berufliche Zukunft vor sich. Das alles hat das Gericht bei seinem Urteil berücksichtigt. Der Fall bleibt, was er war: eine Tragödie.