Der türkische Staatspräsident will mit seinem Staatsbesuch eine „neue Seite in den bilateralen Beziehungen aufschlagen“. Für ein Entgegenkommen der Bundesregierung müsste er allerdings mehr tun, als bisher erkennbar ist, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Einen Neustartwünscht sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kurz vor Beginn seines dreitägigen Staatsbesuchs in Deutschland – Beziehungen „auf Augenhöhe und auf Grundlage gegenseitigen Respekts“, schreibt er in der „FAZ“. Die Unstimmigkeiten wolle er beiseite lassen und sich auf die „gemeinsamen Interessen konzentrieren“. Die Bundesregierung scheint angesichts der vielfältigen Vorbereitungen des Besuchs bereit zu sein, sein Werben um eine engere Kooperation zu erwidern. Dies ist immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Vorjahr, als Erdogan deutsche Spitzenpolitiker noch mit Nazi-Vergleichen überzog. Aber ist sein Bemühen glaubhaft und tragfähig?

 

Fünf deutsche Staatsbürger in türkischer Haft

Wirtschaftlich steht der Türkei das Wasser bis zum Hals: Die Lira verfällt, und der Streit mit den USA verschärft die Lage noch. Diesem Niedergang kann Erdogan nicht tatenlos zusehen, ohne dass seine Macht erodiert. Der Autokrat versucht diese mit allen Mitteln zu festigen, doch Unruhen verarmter Landsleute könnten ihm gefährlich werden. Die Türkei ist daher vor allem auf Geschäfte mit Deutschland angewiesen.

Dies korrespondiert mit den Interessen der deutschen Wirtschaft an stabilen Verhältnissen. Allerdings sagt sie es nicht laut genug, dass Erdogan dafür die Rechtsstaatlichkeit in seinem Land garantieren müsste. Davon ist er weiter entfernt denn je. So sitzen noch mehr als 150 Journalisten in den Gefängnissen, ebenso wie Tausende Anwälte, Richter, Staatsanwälte – und mehr als 18 000 Staatsbedienstete wurden per Dekret und aufgrund teils dubioser Umsturzvorwürfe aus ihren Jobs entfernt. Darüber darf die Bundesregierung bei einer Normalisierung der Beziehungen ebenso wenig hinweggehen wie über die Tatsachen, dass weiterhin fünf deutsche Staatsbürger aus politischen Gründen in türkischer Haft sind und dass Erdogan hierzulande ein Spitzelsystem hat aufbauen lassen, um Oppositionelle zu diskreditieren. Sein Arm reicht weit in die Bundesrepublik hinein.

3,5 Millionen Deutsch-Türken sind eine Verpflichtung

Kanzlerin Merkel wird all die Hürden eines Neustarts hoffentlich ansprechen, denn Erdogan versteht nur Klartext. Der Dialog mit ihm ist aber zwingend, um Zugeständnisse zu erreichen. Auch die in Deutschland lebenden 3,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln sind eine Verpflichtung, mit dem Staatspräsidenten im Gespräch zu bleiben. Und ebenso klar ist, das man dem starken Mann vom Bosporus wegen des Flüchtlingsdeals mit Ankara und wegen seines Einflusses auf den Bürgerkrieg in Syrien nicht einfach die kalte Schulter zeigen darf.

Für eine Normalisierung der Kontakte hätte es kaum eines Empfangs mit großem Pomp und Gloria bedurft. Die Symboldebatte jedoch, ob die Teilnahme am Staatsbankett des Bundespräsidenten eine weitere, unnötige Aufwertung Erdogans darstellt oder nicht, verdient keine große Vertiefung. Vielmehr gilt es dem Gast unmissverständlich deutlich zu machen, dass er die politische „Augenhöhe“, eine Belebung des Handels oder gar die erhoffte Visafreiheit für seine Landsleute nur dann erwarten kann, wenn er die demokratischen Strukturen in seiner Heimat nicht weiter zerstört und die Menschenrechte wiederhergestellt werden, wenn Presse und Justiz von ihren Ketten befreit werden.

Diesbezüglich sind bisher keine Schritte zu erkennen. Erdogan ignoriert derlei Anforderungen und mahnt lediglich, die „gegenseitigen Befindlichkeiten“ zu verstehen. Hält er an diesem Kurs fest, darf die Bundesregierung ihm nicht leichtfertig entgegenkommen.