In der neuen Etappe seiner Stadt-Expedition wandert StZ-Kolumnist Erik Raidt von Stammheim über Zazenhausen nach Mühlhausen. Es gelingt ihm nicht, die Justizvollzugsanstalt links liegen zu lassen. Die Felder und Wiesen im weiteren Verlauf seiner Tour sind ein hartes Kontrastprogramm.

Stuttgart - Es wird am besten sein, das eigene Scheitern einzuräumen. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Justizvollzugsanstalt in Stammheim links liegen zu lassen, andere Ecken des Stadtbezirks anzuschauen, aber am Ende war meine Neugier stärker. Mir geht es wie vielen Stuttgartern: Über Stammheim während des Deutschen Herbsts habe ich Bücher gelesen, Spiel- und Dokumentarfilme gesehen, aber das Gefängnis selbst habe ich noch nie aus der Nähe betrachtet.

 

In der Pflugfelder Straße liegen weniger als zehn Meter zwischen den gewöhnlichen Wohnblocks auf der einen und dem Knast auf der anderen Seite. Die beiden Welten werden von einer Betonmauer mit einer Stacheldrahtkrone getrennt, hinter der Mauer steht ein weiterer etwas niedriger Zaun, ebenfalls mit Stacheldraht gesichert. Ein Schild warnt, dass der Bereich videoüberwacht sei, hinter der Betonmauer ragen Lichtmasten empor, die das Gelände nachts in gleißendes Licht tauchen können.

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Jeder Mensch kennt Grenzen in seinem Leben. Grenzen, die er sich selbst zieht oder die von anderen für ihn gezogen werden. Aber an keinem anderen Ort auf meiner Stuttgart-Expedition habe ich den Wert der Freiheit stärker gespürt als hier an der Stammheimer Mauer, in einem Stadtbezirk, der im Schatten eines Mythos lebt. Nur ein paar hundert Meter entfernt führt eine ältere Dame am Rande eines Maisfelds ihren Hund aus. Sie lebt schon lange in Stammheim, aber der Knast spielt keine Rolle in ihrem Leben. „Für mich war es ein Einschnitt, als die Post hier vor Ort geschlossen hat. Solche Dinge, die sind für mich wichtig“, sagt sie und lobt die guten Einkaufsmöglichkeiten vor der Haustür.

An diesem Montag führt mich die achte Etappe meiner Tour von Stammheim aus über Zazenhausen nach Mühlhausen. Jules Vernes Romanheld Phileas Fogg betrat auf seiner Reise zu fernen Kontinenten überall Neuland. Aber wie kann es eigentlich sein, dass mir in meiner Heimatstadt so viele Orte völlig unbekannt sind? Beim Zuffenhäuser Friedhof schaue ich einem Steinmetz bei der Arbeit zu, ich komme an einer Kita vorbei, die ihre Kinder auf Türkisch willkommen heißt und sehe – für mich nicht minder exotisch – eine Haltestelle mit dem Namen „Reibedanz“. Reibedanz, denke ich mir, das hieß früher „Stehblues“. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Hinter Zazenhausen verliert sich jedes Gefühl, in einer Großstadt unterwegs zu sein. Eine Wiesen- und Felderlandschaft öffnet sich, sie ist zu beiden Seiten von Wald umfasst. Hier herrscht reger Flugverkehr: Schwalben sind als pfeilschnelle Tiefflieger unterwegs, ein Mäusebussard taucht mit lautlosem Flügelschlag in den Wald ein. Zwischen Apfelbäumen hüpfen Elstern umher, die ihren Platz erst räumen als sich ihnen heiser krächzende Raben nähern. Das untere Feuerbachtal mit seinen Löwenzahnwiesen bietet eine Freiheit, die die Gedanken an Stammheim vertreibt.

Der murmelnde Feuerbach ist in Botnang entsprungen, er schlängelt sich vor Mühlhausen dem Neckar entgegen, in den er schließlich mündet. Der Neckar, gleich müsste er zum ersten Mal zu sehen sein. Aber dort wo der Fluss liegen muss, versperren ein Fast-Food-Lokal und eine Tankstelle den Blick. Der vielerorts zubetonierte Neckar ist auch nur ein Gefangener.