Beim Stadtarchiv in Stuttgart ist eine Wanderausstellung der Arolsen-Archives mit Aufnahmen von deportierten Menschen im Nazi-Regime zu Gast.

Die Fotografie zeigt zwei Mädchen, die in dicke Mäntel mit Judenstern gehüllt sind. Schal, Fell- und Wollmützen, eine Umhängetasche. Es scheint, als ob sie warten. Eines der Mädchen lächelt, das andere blickt ernst in die Kamera. Dass die zwei Kinder auf dem Weg in die Vernichtungslager sind – man ahnt es. Sicher sein, kann man sich nicht.

 

Bilder, die die NS-Deportation von Juden, aber auch von Sinti und Roma dokumentieren, seien nicht leicht zu lesen, erklärt Kerstin Hofmann, eine Mitarbeiterin der Arolsen-Archives. Das internationale Zentrum zur Erforschung der NS-Verfolgung unterhält aktuell das weltweit umfassendste Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus.

Projekt #LastSeen

Wo ist die Aufnahme gemacht? Was sehen wir auf solchen Fotos? Was bleibt unsichtbar, und wie ist das Abgebildete einzuordnen? Auf die Beantwortung solcher Fragen sind die Arolsen-Archives mit Sitz im hessischen Bad Arolsen spezialisiert. Mit dem Ziel, bislang unbekannte fotografischen Dokumente der systematischen Verschleppungen durch die Nationalsozialisten ausfindig und zugänglich zu machen, hat die internationale Institution kürzlich das Projekt #LastSeen aus der Taufe gehoben. „Last seen“ heißt es, weil die Fotografien nicht selten auch die letzten Lebenszeichen der abgebildeten Deportationsopfer darstellen.

Wanderausstellung zu Gast im Stadtarchiv

Mit einer Wanderausstellung, die seit dieser Woche Station beim Stuttgarter Stadtarchiv macht, rufen die Arolsen-Archives in zahlreichen Städten Deutschlands Archive, Lokalhistoriker, aber auch Privatpersonen dazu auf, mutmaßliche Aufnahmen der Deportationen einzureichen oder bei der Identifikation von abgebildeten Personen mitzuhelfen. Stuttgart ist als Station der Wanderausstellung von großer Bedeutung, weil die Stadt zwischen 1941 und 1945 Ausgangspunkt zahlreicher Deportationstransporte war. Insgesamt wurden vom Stuttgarter Nordbahnhof aus mehr als 2500 Jüdinnen und Juden verschleppt.

Was überrascht: Trotz dieser Ereignisse ist die Anzahl der aus Stuttgart überlieferten Fotodokumente gering. Zwar besitzt das Stadtarchiv mit einer rund achtminütigen Filmsequenz der ersten Stuttgarter Deportation vom Dezember 1941 ein einzigartiges historisches Zeugnis. „Doch darüber hinaus gibt es bislang nur rund ein Dutzend weiterer Fotografien, die die Deportationen zeigen“, sagt Katharina Ernst, die Direktorin des Stadtarchivs, bei der Eröffnung der Wanderausstellung am Dienstag dieser Woche. Laut den Arolsen-Archives seien deutschlandweit nur rund 550 solcher Fotodokumente bekannt.

Die meisten Aufnahmen sind aus der Täterperspektive

Ein weiteres Problem: „Alle diese Fotos müssen kritisch untersucht und in einen Kontext eingeordnet werden“, sagt die Archivleiterin Katharina Ernst. Ein Grund: Fast alle Aufnahmen der Opfer der Deportationen sind aus der Täterperspektive gemacht worden. „Die durchgängige antisemitische Codierung der Bilder gilt es sich bewusst zu machen.“

Im Rahmen eines ausstellungsbegleitenden Vortrags des Politologen Akim Jah am Dienstag, 21. Juni, im Stadtarchiv können Interessierte ihre Fotofunde, die möglicherweise in einem Zusammenhang zu den NS-Deportationen stehen, von Experten prüfen lassen. Die Fotos sollen mit Einwilligung der Besitzer Teil eines digitalen Bildatlas werden, der bis Ende des Jahres im Internet zugänglich sein wird. Der Esslinger Rabbiner Mark Mordechai Pavlosky erklärte anlässlich der Ausstellungseröffnung: „Es gibt kaum noch Überlebende, die uns etwas erzählen können. Aber es gibt noch Fotos, Archive und Dokumente.“

„Last Seen. Bilder der NS-Deportation“ ist bis 24. Juni in einem historischen Lastwagen im Innenhof des Stadtarchivs zu sehen.

W eitere Informationen zur Initiative „#LastSeen“ unter: https://lastseen.arolsen-archives.org