„Kirche verliert auf dem religiös-spirituellen Markt an Boden“, weiß Stadtdekan Sören Schwesig. Sein Rezept dagegen lautet: Die Spezialisierung und die Konzentration in den Angeboten.

Stuttgart - Der evangelische Stadtdekan Søren Schwesig erzählt, was passiert, wenn er im Gottesdienst die AfD kritisiert.

 

Herr Schwesig, können Sie den Zustand Ihrer Kirche beschreiben?

In einer Stadt wie Stuttgart mit einem Feuerwerk an Angeboten ist die Kirche einer von vielen Anbietern auf dem religiösen Markt und steht in ständiger Konkurrenz. Das ist eine Herausforderung. Zugleich wird es zunehmend schwieriger, mit Menschen über Religion ins Gespräch zu kommen.

Da könnten Sie den Laden ja gleich schließen.

Überhaupt nicht. Die Kirche hat in einer Gesellschaft, in der das Wir-Gefühl schwächer wird und Verrohungstendenzen zunehmen, eine wichtige Aufgabe: Menschen immer neu auf Gott anzusprechen und gleichzeitig die gesellschaftliche Entwicklung aufmerksam und kritisch zu begleiten.

Eine Kirche, die die Stadtgesellschaft repariert?

Das wäre mir zu vollmundig. Die Kirche ist ein wichtiger Player in der Stadtgesellschaft. Wir sind ein Netzwerker, der das Zusammenleben in den Quartieren ermöglicht und fördert. Ich nenne etwa die Arbeit der Diakoniestationen und unsere vielen Angebote für ältere Menschen in den Stadtteilen. Wir tragen Maßgebliches dazu bei, damit das Zusammenleben in Stuttgart gelingen kann.

Das ist ein hoher Anspruch.

Ja, aber wir sind bei dieser Aufgabe mit vielen anderen Institutionen verbunden, die ihrerseits die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen – zum Beispiel die Parteien und Gewerkschaften. Darum freue ich mich, dass es in der evangelischen Kirche in Stuttgart keine Tendenzen gibt, uns auf uns selbst zurückzuziehen. Wir machen Ernst mit unserem Motto „In der Stadt. Mit der Stadt. Für die Stadt“.

Und das alles in einer Zeit, in der Kirche immer mehr an Bedeutung verliert.

Es gibt einen Bedeutungsverlust. Da brauchen wir nicht drum herumreden. Aber ich sehe auch Orte, wo blühendes Leben zu finden ist. Bei allem Realismus gegenüber manchen Entwicklungen ist es auch wichtig, auf Gelingendes zu schauen. Und davon gibt es viel.

Es gibt also auch blühende Landschaften in Ihrem Sprengel?

An vielen Orten. Zwar haben manche Gemeinden am normalen Sonntag eher weniger Gottesdienstbesucher oder finden nur schwer Ehrenamtliche. Andererseits waren am Erntedankfest viele Kirchen sehr gut besucht. Menschen suchen mehr und mehr das Besondere, auch den besonderen Gottesdienst. Eine Folge der Eventisierung.

Das klingt schwermütig.

Im Gegenteil, ich finde es spannend, Angebote zu suchen, die Menschen ansprechen. Das ist manchmal mühsam, aber eine Aufgabe unserer Zeit. Und ich bin überzeugt, dass Menschen sich erreichen lassen. Gerade bei den Angeboten hapert es. Offenbar verliert Kirche in dem von ihr angesprochenen Wettbewerb auf dem religiös-spirituellen Markt an Boden. Deshalb müssen wir die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden intensivieren.

Was heißt das konkret?

Die Zeit geht zu Ende, da jede Gemeinde sozusagen ein Vollprogramm fährt: Angebote von der Wiege bis zur Bahre. Wir müssen uns spezialisieren. In Stuttgart sind wir auf dem Weg, das zu entwickeln.

Was ist auf diesem Weg hinderlich – auch in Ihrer Landeskirche?

Es ärgert mich, wenn Geld für Entwicklungsprojekte mit dem Gießkannenprinzip auf alle Gemeinden verteilt wird, anstatt gezielt Projekte zu fördern. Ich kenne die Sorge, Gemeinden zu bevorteilen. Besser wäre aber, gezielt zu fördern, wo Neues wächst. Hier ist meine Kirche ein etwas schwerfälliger Tanker.

Wie stehen Sie zur aktuellen Missbrauchsdebatte?

Missbrauch durch kirchlich Bedienstete ist etwas vom Erschütterndsten, was ich mir denken kann. Froh bin ich, dass meine Kirche die Aufarbeitung dieser Fälle sehr früh aktiv angegangen ist mit einer Kommission, die umfassend aufklären soll. Wer hat wann was gewusst und nicht gehandelt? Wie kann man sexuelle Übergriffe vermeiden? Was tun, wenn es doch geschieht? Die Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche sind weit geringer als die Zahlen, die sonst zu lesen sind. Aber jeder einzelne Fall ist einer zu viel. Und klar ist: Es kann keine Toleranz gegenüber Tätern geben.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die jüngst geäußerte Generalkritik Ihres katholischen Kollegen, von Stadtdekan Christian Hermes, an seiner Kirche?

Sie ist angemessen. Und seine Anregung zur Öffnung des Zölibats sinnvoll. Menschen legen an unsere Kirchen und ihre Vertreter einen hohen moralischen Maßstab an – zu Recht. Kirchliches Handeln muss dem entsprechen, was wir von den Kanzeln verkündigen. Sonst sind wir nicht glaubwürdig. Eine unglaubwürdige Kirche hat im Sinne Jesu ihre Existenzberechtigung verloren.

Hinzu kommt, dass Menschen es immer weniger akzeptieren können, wenn sie von den Kirchen bei der Sexualmoral oder anderen Lebensformen ausgegrenzt werden. Zum Beispiel bei der Homo-Ehe. Wie ist da der Stand?

Der Landesbischof müht sich mit großem Nachdruck um eine Lösung. Es wäre schrecklich, würde die Frage der öffentlichen Segnung gleichgeschlechtlicher Paare Thema in der Kirchenwahl 2019 werden. Wahlkampf ist eine Zeit der Vereinfachung und des Schwarz-Weiß-Argumentierens. Das würde uns bei diesem Thema weit zurückwerfen. Und ein Nichtentscheiden bei dieser Frage würde uns hemmen.

Bei was?

Bei der Arbeit an anderen Themen. Zum Beispiel dem Thema Nächstenliebe. Ich erhalte nach Predigten immer öfter Mails, in denen Leute sich beschweren. Zuletzt als ich davon redete, dass die AfD Strafanzeige gegen Hilfsorganisationen gestellt hatte, die Menschen in Seenot im Mittelmeer retten. Wörtlich sagte ich: „Der barmherzige Samariter wird zum Kriminellen gemacht.“ Dieser Satz löste bei Einzelnen Protest aus. Da merke ich, etwas ist bei uns aus dem Lot geraten.

Darf man als Christ AfD wählen?

Ich sage es so: Ein Christ kann keine Partei wählen, die rassistisches, antisemitisches und spalterisches Gedankengut verbreitet. Auf dieser Grundlage hat er sich zu entscheiden.