Die Opernerweiterung eröffnet die Chance, die Verkehrsschneise in eine städtische Straße zu verwandeln. Voraussetzung ist aber, dass nicht nur das Einzelbauwerk Kulissenneubau in den Blick genommen wird.

Stuttgart - Städtebauliche Dauerbrenner haben es an sich, dass sie irgendwann nicht mehr brennen, sondern nur noch vor sich hin kokeln. Selbst an die schlimmsten Bausünden gewöhnt sich der Mensch mit der Zeit, bis er, quasi evolutionsbiologisch umgepolt, die Misere für den Normalzustand hält. Die Politik in Land und Stadt scheint im Vertrauen auf diesen Anpassungsprozess des Homo urbanus jedenfalls in Ruhe abwarten zu wollen, bis der innerstädtische Autobahnabschnitt namens Kulturmeile eines Tages als bundesweit einzigartiges Relikt der autogerechten Stadt unter Denkmalschutz gestellt wird. Anders ist es nicht zu erklären, dass jetzt die Chance vertan zu werden droht, die Opernsanierung zu nutzen, um zugleich die Stadtreparatur an dieser Verkehrsschneise des Grauens voranzutreiben.

 

Die Zeit sei langsam reif für eine ebenerdige Querung der Konrad-Adenauer-Straße, verkündete beim Musikhochschuljubiläum Anfang der Woche der nicht mehr ganz so neue grüne Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold. Ja, geht’s in noch kleinerer Münze? Stadt und Land, die beiden Akteure an der Kulturmeile, sind offenbar entschlossen, die alten Stuttgarter Kardinalfehler zu wiederholen: eine Planung mit starrem Blick aufs Einzelprojekt und die Unfähigkeit, in städtebaulichen Zusammenhängen und Perspektiven zu denken. Oder ist es nur Unlust?

Der Verdacht, dass hier wissentlich Potenziale verspielt werden, drängt sich auf, denn an Gegensteuerungsversuchen etwa der eigenen Fachleute im Stadtplanungsamt und auf Landesseite bei Vermögen und Bau fehlt es nicht. Fest steht, dass am Ende auf der ganzen Linie schlechtere Lösungen in Kauf genommen würden, wenn es bei den bisherigen Prämissen bleibt, sowohl den Kulissenneubau betreffend als auch den Stadtraum Kulturmeile – und das für geschätzte vierhundert  Millionen Euro und auf lange, lange Sicht.

Ein Flächenbedarf von 12 000 Quadratmetern

Dem Wettbewerb im nächsten Jahr für das neue Kulissengebäude der Staatstheater soll nach den bisherigen Rahmenbedingungen eine Planung auf dem Grundstück des Bestandsbaus zugrunde gelegt werden. Massenmodelle der Abteilung Städtebauliche Planung Mitte und der Planungsbehörde des Landes machen klar, dass solch ein Baukörper aufgrund des angemeldeten Flächenbedarfs von rund 12 000 Quadratmetern zwangsläufig ein gewaltig aufgeblähtes Volumen annimmt: so hoch wie der Bühnenturm der Oper und so tief, dass er bis hart an die Straße vorrückt.

Mit Nachteilen verbunden wäre das sowohl für den Theaterbetrieb, der eine beengte innere Organisation und viele Räume ohne Tageslicht erhielte, als auch für Fußgänger, denen der fette Brocken nicht mehr viel Platz lässt. Auch die Aussicht, als Passant an geschlossenen Außenmauern und Tiefgarageneinfahrten für die Bühnenanlieferung vorbeidefilieren zu müssen, ähnlich wie beim heutigen Kulissengebäude, verheißt nicht gerade einen städtischen Auftakt für die Kulturmeile. Rückseite alt würde durch Rückseite neu ersetzt.

Warum, stellt sich bei diesem trüben Zukunftsbild sogleich die Frage, verschafft man dem Staatstheater nicht mehr Luft, indem man das in städtischem Besitz befindliche Grundstück neben dem Kulissenbau in die Überlegungen einbezieht? Eine Zierde der Kulturmeile ist die halb versenkte Sporthalle des Königin-Katharina-Stifts, eine Absonderlichkeit aus dem reichhaltigen Panoptikum der Stuttgarter Nachkriegsmoderne, ohnehin nicht. Gelänge es, die Schulsporthalle zu versetzen und das neue Kulissengebäude bis an die Kreuzung vis-à-vis der Alten Staatsgalerie auszudehnen, würden Theaterbetrieb, Architektur und Stadtraum gleichermaßen profitieren (und vielleicht sogar die Schule, die einen attraktiveren Nachbarn samt lärmgeschütztem Pausenhof bekäme).

Keine Höhenkonkurrenz für den Littmannbau

Nicht nur verbessern sich die Arbeitsbedingungen in dem neuen Theatergebäude – durch seine schlankere und niedrigere Silhouette würde er auch dem historischen Littmannbau keine Höhenkonkurrenz machen, was dem Denkmalschutz sicher einige Kummerfalten erspart. Vor allem aber bekäme die Kulturmeile endlich einen gescheiten Auftakt: statt einem schamhaft im Erdreich versteckten Turnhallendach einen ansehnlichen Theaterbau, der dann über krude Zweckdienlichkeit hinaus noch öffentliche Funktionen wie ein Café aufnehmen oder Einblicke in die Werkstätten gewähren könnte, nach dem Vorbild etwa des umgebauten und vielfach preisgekrönten Heidelberger Theaters. Das wäre dann ein urbanes Stück Kulturmeile – im Gegensatz zu der dichten, allein auf Flächenmaximierung getrimmten, introvertierten Packung Kulissenneubau, die sich momentan am Horizont abzeichnet.

Denn in den Blick zu nehmen gilt es ja auch, dass an dieser Kreuzung der künftige östliche Ausgang des Bahnhofs Stuttgart 21 liegt. Für auswärtige Besucher mit dem Ziel Staatsgalerie oder Musikhochschule oder Haus der Geschichte oder Bürgerzentrum des Landtags ist diese Ecke künftig das Entrée der Kulturmeile. Mit einem einnehmenden Gegenüber von Staatsgalerie und Theaterbau würde sie ihrem bis dato reichlich schönfärberischen Namen künftig alle Ehre machen.

Die Rückverwandlung dieser Brrrrmbrrrrm-Meile in eine städtische Straße hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Wegeverbindungen für Fußgänger und Radfahrer verbessert oder überhaupt erst geschaffen werden. Bauliche und verkehrliche Entwicklung sind eng miteinander verflochten. Deshalb geht es nicht, erst einmal das falsche, überdimensionierte Kulissengebäude hinzustellen, womöglich eine neue Theaterrückseite entstehen zu lassen, und sich dann Gedanken über die weitere Zukunft der Kulturmeile zu machen. Das würde, nach kurzsichtiger alter Stuttgarter Planungssitte Tippelschritt für Tippelschritt in die Irre führen.

Warum nicht den Schwung nutzen?

Alle Wettbewerbe in der Vergangenheit haben gezeigt, dass um die Verengung der Fahrbahnen und die Verbreiterung der Randzonen kein Weg herumführt, wenn man die Kulturmeile domestizieren will. Auf der Theaterseite, wo unmotorisierte Individuen eigentlich gar nicht vorgesehen sind und sich ihren Pfad mühsam über lärm- und abgasbelastete Bürgersteige und im weiteren Verlauf durch den Oberen Schlossgarten bahnen müssen, fehlt eine durchgehende Fußgängerverbindung. Auf der Gegenseite bleiben die Autos unter sich, weil der Per-pedes-Verkehr auf eine obere Ebene verbannt ist.

Einige Projekte gehen jetzt mit gutem Beispiel voran und holen die Gebäude von ihrem hohen Sockel auf die Straße herunter. James Stirling und Michael Wilford haben es mit dem Platz zwischen Staatsgalerie und Musikhochschule, der auf den Bühneneingang der Oper achsialen Bezug nimmt, vor Jahren schon vorgemacht. Die Stuttgarter Architekten Lederer, Ragnarsdottir, Oei folgen diesem Beispiel jetzt mit der Erweiterung der Landesbibliothek und dem zum Stadtmuseum umgebauten Wilhelmspalais. Warum als öffentlicher Bauherr also nicht den Schwung dieser Initialprojekte nutzen und mit höchsten Ansprüchen an Stadtraum und Architekturqualität zur Sache gehen? Dem millionenteuren Opernsanierungsprojekt würde das eine noch breitere gesellschaftliche, auch musiktheaterfernen Stuttgartern zu vermittelnde Legitimierung geben.