Planungskultur in Stuttgart basiert auf dem Prinzip des Aussitzens und Durchwurschtelns – ob es sich um das Kulturquartier oder den Marktplatz handelt. Einige engagierte Bürger haben darum beschlossen, in die Offensive zu gehen.

Stuttgart - Was, zum Donner, ist eigentlich los mit dieser Stadt? Was muss noch passieren, damit Politik und Verwaltung aus ihrem Dämmerzustand erwachen? Stuttgart: Nummer eins als Stauhauptstadt Deutschlands. Stuttgart: Nummer eins unter den Städten mit Fahrverbot. Gratulation, zwei Meistertitel in einer Woche, das soll uns erstmal einer nachmachen! Bei den höchsten Mieten hat es leider nur zu einer Bronzemedaille gereicht. So eilt man von Negativrekord zu Negativrekord, beruft sich trotzig auf seine relativen Erfolge, die unterm Strich keine sind – und macht, was man immer macht: Man wurschtelt sich so durch. Von einem Bild der Stadt, einer Vorstellung, wohin sie sich entwickeln, wie es mit der Mobilität weitergehen soll, wie mit der Wohnbaupolitik, wie überhaupt mit dem Leben und Arbeiten in Stuttgart keine Spur.

 

Die Bürger wollen dem Elend aber nicht länger tatenlos zusehen. Die einen schimpfen auf die Fahrverbote, die anderen machen sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder und demonstrieren gegen den Feinstaub, die dritten versuchen mit frischen Vorschlägen, Vereinsgründungen unter dem Namen „Aufbruch Stuttgart“ und offenen Briefen der Stadt Dampf zu machen. Allein, man hat den Eindruck, sie reden gegen eine Mooswand.

Zwei Beispiele aus jüngster Zeit, die ein Schlaglicht auf die örtliche Planungskultur werfen: Kurz nacheinander wird in öffentlicher Runde über Szenarien einer urbanen Verschönerung der Innenstadt im Zuge der geplanten Opernsanierung diskutiert. Das eine Mal auf Initiative der SPD, das andere Mal parteiunabhängig auf Initiative engagierter Stuttgarter. In ihren Zielen liegen die beiden Gruppen gar nicht so weit auseinander. Die Bürger begnügen sich jedoch nicht wie die SPD mit der Forderung nach einem später als Konzerthaus zu nutzenden Interimsbau in Opernnähe. Die 30 oder 40 Millionen für eine Ersatzspielstätte, die nicht abgebrochen werden muss, wenn sich ihr Zweck erledigt hat, wären nach überzeugender Ansicht der Sozialdemokraten nachhaltiger investiert.

Auf der Agenda steht nichts weniger als die Mobilitätswende

Stuttgart hätte etwas davon, weil es so die dringend benötigte Philharmonie bekäme, die Oper hätte etwas davon, weil sie während der rund vierjährigen Umbauzeit mit ihren Kulissen nicht nach Bad Cannstatt pendeln müsste und dabei Gefahr liefe, ihr Publikum zu verlieren, und für die Kulturmeile wäre ein Konzerthaus zweifellos ein würdigerer Auftakt als die bisher vorgesehene Schulturnhalle. Den Bürgern geht es darüber hinaus viel grundsätzlicher um die Rückgewinnung des öffentlichen Raums: Weg von der „PS-Meile“, hin zu einem „lebendigen Kulturquartier“, so war die Podiumsdiskussion übertitelt, zu der Mitte Februar fast tausend Leute kamen.

Auf der Agenda, so viel ist klar, steht nichts weniger als die Mobilitätswende – eine auf die städtebauliche Modernisierung abzielende Abkehr von der autogerechten Stadt der Nachkriegszeit im Zeichen einer Stadt für Menschen. Und wie reagiert der Baubürgermeister? Er lächelt fein und sagt, dass man die Frischluftschneisen erhalten müsse. „Frischluftschneisen“? Das ist der Witz in Tüten. Gemeint ist damit das ungefähr handtuchgroße Stück Grünfläche hinter dem Neuen Schloss namens Akademiegarten, wo jahrhundertelang die nach 1945 abgerissene Hohe Karlsschule stand. Im Namen der „Frischluftschneisen“ macht sich der Grüne jetzt also für die Beibehaltung der Abgasschneise B14 stark. Und eine Verlegung des Katharinenstifts zugunsten einer Interimsbühne/Philharmonie lehnt Peter Pätzold ab, weil die Schule gerade neue Fenster erhalten habe.

Hinter dieser Antwort steckt die alte baupolitische Haltung im Stuttgarter Rathaus, stets bei dem zu beginnen, was nicht geht. Das hat den Vorteil, dass es – wie alle faulen Ausreden – den Amtsträgern das Bohren dicker Bretter erspart. Aber wie sagte der frühere Ulmer Baubürgermeister Alexander Wetzig auf dem Bürgerpodium im Hospitalhof? Zuerst müsse man seine städtebaulichen Ziele definieren und dann mit „ausgeprägtem politischen Willen“ nach Lösungen suchen, statt von den (vorgeschobenen oder eingebildeten) Hindernissen auszugehen.

Keine teuren Tunnellösungen

Wetzig weiß, wovon er spricht: In seiner Amtszeit ist es ihm gelungen, die lebens- feindliche Neue Straße, ebenfalls ein Relikt der Nachkriegszeit und das Ulmer Pendant zur Stuttgarter Konrad-Adenauer-Straße, zurückzubauen. Entstanden ist dadurch eine neue urbane Mitte zwischen Münster und Rathaus. Bis eine „neue Mobilitätskultur“ durch die „Neugestaltung des öffentlichen Raums“ Einzug halten konnte, habe es allerdings dreizehn Jahre gedauert – Jahre, in denen die Planer unbeirrt „dranbleiben“ mussten. Von teuren Tunnellösungen rät Wetzig übrigens ab. In Ulm ist der Verkehr darum auch nicht aus der Innenstadt verbannt, sondern hat einem entspannten Miteinander von Fußgängern, Fahrradfahrern und Autos Platz gemacht.

Stuttgarter Planungskultur zum Zweiten: Der Marktplatz soll aufgewertet werden. Kein ganz unbedeutender Ort in Stuttgart, der jedoch nach jahrzehntelanger Vernachlässigung den Charme eines „Platzes in Ostdeutschland zu DDR-Zeiten“ verströmt, wie ein Kollege unlängst zutreffend kommentierte. Die interessierten Bürger erschienen in Scharen zu einer Sitzung des Bezirksbeirats, und was bekamen sie zu hören? Dass man eine Billiglösung ohne Architekten anstrebe. Der Brunnen wird aus der Versenkung geholt, neues Pflaster und ein paar Fontänen. Großartige Idee! Großartiger ist nur noch die Unverfrorenheit, mit der man sich bei diesem Gestümper der Kompetenz von Architekten überlegen fühlt und ebenso großartig die Chuzpe, mit der dieses wichtige Projekt am Gestaltungsbeirat vorbei zusammengenagelt werden soll. En passant degradiert man dieses soeben mit stolzgeschwellter Brust installierte Gremium angesehener Fachleute zur Alibitruppe.

„Höchste Planungsqualität“ hat der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Architekten in einem offenen Brief an Fritz Kuhn für den Marktplatz gefordert, nach dem Vorbild anderer europäischer Städte. Ob er auf offene Ohren trifft? Eher nicht. Die Grünen, voran die Rathausspitzen Oberbürgermeister und Baubürgermeister, stehen schlecht da – so schlecht, dass die Bürger beschlossen haben, in die Offensive zu gehen. Am kommenden Mittwoch wird der gemeinnützige Verein „Aufbruch Stuttgart“ gegründet. Ab Donnerstag kann diesem dann jeder beitreten, dem die Zukunft seiner Stadt am Herzen liegt. Als erstes will der Verein erreichen, dass an einem Sonntag im Sommer die B14 auf dem Kulturmeilen-Abschnitt für den Verkehr gesperrt wird und alle Stuttgarter dann zu einem gemeinsamen Frühstück mitten auf der Straße eingeladen sind.