Stadtführer am Bodensee Was macht Konstanz so besonders? Ein Historiker erklärt seine Stadt

Imperia begrüßt die Besucher vom See aus. Foto: Felix Kästle/dpa

Seit mehr als 30 Jahren führt der Historiker Daniel Groß neugierige Menschen durch sein Konstanz – einst für eine kurze Epoche die improvisierte Hauptstadt Europas

Daniel Groß reibt sich vergnügt die Hände. Er hat auf einer Online-Auktion eben einen dicken Fisch an Land gezogen: Eine Lithografie von Wollmatingen, dem Dorf, das während der NS-Zeit dem nahen Konstanz zugeschlagen wurde. Der historische Druck ist für Groß, den 59 Jahre alten Berufs-Konstanzer, ein neuer Baustein in seiner Kollektion. Er freut sich auf die alte Darstellung von Konstanz, seinem Konstanz. Es dürfte nur wenig Menschen in der Stadt am Bodensee geben, die mit dieser Stadt so eng verwachsen sind.

 

Diese Innigkeit kommt von seinem Beruf. Der Mann mit dem blonden Zopf verbringt sein ganzes Leben hier. Elternhaus, Schule, Studium der Geschichte – alles im Konstanzer Habitat. Ans Lehramt dachte er nie, obwohl er der Typ des beliebten und fürsorglichen Studienrats sein könnte. Mehr zufällig probiert er sich schon während des Studiums als Stadtführer aus, das Archäologische Landesmuseum sucht händeringend Personal. Seitdem ist Groß dabei. Tagaus, tagein zieht er mit alten und jungen, motivierten und ermatteten Gruppen durch seine Stadt.

Etwa 70 Stadtführer für jährlich eine Million Gäste

Die Zunft der Stadtführer bildet eine Klasse für sich. Etwa 70 Menschen tummeln sich in Konstanz in diesem halb kulturhistorischen, halb folkloristischen Gewerbe. Gut eine Million Besucher zählt die Gemeinde jedes Jahr. Davon sind die meisten Schweizer, die in der nahen Grenzstadt nicht nur günstige Toilettenartikel einkaufen möchten.

Genug Gäste, um eine gewaltige Nachfrage an kompetenter Betreuung zu erzeugen. Die Kaste der Führenden ist weit gestaffelt. Der Oberstudienrat a. D. ist genau so vertreten wie die Kunsthistorikerin, die ihre Gefolgschaft auf die Unterschiede zwischen gotisch und romanisch, spitzen Bögen und runden Bögen, trimmt.

Wissen über einen Crashkurs angeeignet?

Wer in die eine oder andere Führung hineinhört, die den Weg kreuzt, erfährt schnell die Unterschiede. Da gibt es den Guide, der sich das Wissen über einen Crashkurs angeeignet hat und Zahlen herunterleiert. Und es gibt die Kennerin, die etwas über die Eigenart dieser alten Stadt vermitteln kann. Das sind dann die besseren, die Glücksgriffe für jede Gruppe. Sie können erklären, was Konstanz etwa von Esslingen, Rottweil oder Ulm unterscheidet.

Wachsend ist der Anteil der Erlebnispädagogen, die mit ihrem Anhang in sonderbaren Kostümierungen um die Häuser ziehen. Ein stämmiger Herr mit langem Haar drapiert sich als „Henker Hans“ und zeigt seinen Leuten in dieser martialischen Aufmachung das Gerichtswesen im Mittelalter.

Der Nachtwächterrundgang ist beliebt

Andere verkleiden sich als Hebammen, Narren, Geistliche. Beliebt ist der Nachtwächterrundgang (bevorzugt am helllichten Tag) oder „Die Saurauslassen mit dem Landsknecht“, wie es im Prospekt der Tourist Info heißt. Wem das noch zu bieder erscheint, wird bei der Grusel-Tour bedient: Ein fülliger Finsterling in schwarzer Brokatjacke und mit angeklebtem Backenbart lädt dazu ein.

Stadtführer Daniel Groß im Münster. Foto: Uli Fricker

Daniel Groß hält von diesen Verkleidungen herzlich wenig. Er ist zwar ein begeisterter Fasnachter und Wollmatinger, kann auch dazu ein ganzes Buch erzählen. Doch außerhalb des Jahres verhüllen, das kommt ihm dann doch nicht in den Sinn. Er käme sich dann eher als Clown denn als ernsthafter Geschichtsvermittler vor, sagt er. Da ist er Traditionalist – und ganzjährige Fasnacht macht die Fasnacht kaputt.

„Bitte nicht so viel Jahreszahlen“

Eben kommt er von einer Führung. „Alles Erzieherinnen“, sagt er. Eine muntere Truppe, die bei der Hitze treu beisammenblieb. Das erste, was sie ihn baten: „Bitte nicht so viel Jahreszahlen!“ Diese Bitte lässt Groß schmunzeln. Denn er verschont seine Zuhörer mit Chronologie. „Sechs Jahreszahlen reichen, um Konstanz zu skizzieren.“ Sie dienen als grobes Gerüst. Die Zwischenräume muss ein guter Historiker selbst mit Leben füllen. Das ist sein Job und seine Kunst.

Ein solches Vorher-Nachher-Datum ist das Jahr 1806, markant für viele Städte und Landschaften im heutigen Baden-Württemberg. „1806 wurde Konstanz badisch.“ Groß zwinkert. Damit ist das Stichwort gefallen, das „Badische“, das eigentliche Schmiermittel, das so viele Gefühle und Sympathien auslöst und sofort mit „Schwäbisch“ kontrastiert wird. Eine gute Stadtführung erzählt von dem, was nicht im Geschichtsbuch steht. Zwischentöne und Grauzonen. Und die regionalen Reibungen, die Stammesfehden. Ohne die Schwaben (oder was man hier dafür hält) wäre Konstanz halb so interessant.

Eines schafft Groß spielend: Er hält seine Gruppe zusammen – mit ziemlich altmodischen Mitteln wie Lautstärke, Präsenz, Charisma. Wo sich andere Guides der modernen Technik bedienen und ihre Kundschaft mit Ohrstöpseln und Empfängern multimedial behängen, geht er den alten Weg. Er spricht markant, die Natur hat ihn mit einem kräftigen Bariton ausgestattet.

Stadtgeschichte ist mehr als Bücherwissen

Dazu kommt der Dialekt – sein See-Alemannisch, das sich wie komponiert anhört. „Den Knopf im Ohr lehne ich ab“, sagt er. „Dann bleiben mir die Leute am Schaufenster stehen, weil sie dich auch aus der Ferne hören. Und dann habe ich sie schon verloren.“ Er fixiert seine Gäste, stellt Fragen, rudert mit den Armen. Bei ihm kann man lernen, dass eine Stadtgeschichte viel mehr sein kann als trockenes Bücherwissen.

Der Münsterturm bietet einen Blick auf die Konstanzer Altstadt. Foto: dpa/dpaweb

Was in Konstanz anders ist: Die Lage am See, sagt Groß, das viele Wasser um die Stadt. Die Verbindung von Wasser, Wein und viel altem Gemäuer prägt den Ort. Früher hieß der Bodensee einmal Schwäbisches Meer. Diesen Ausdruck liest man nur noch in antiken Karten. In Baden wird der Begriff nicht gerne gehört, die Schwaben sitzen gefühlt doch frühestens in Ravensburg.

In der Ferienzeit bis zu 80 Mal pro Monat durch die Stadt

Konstanz ist nie zerstört worden. Weder der Dreißigjährige Krieg noch der Zweite Weltkrieg rissen Löcher ins Weichbild. Wohl überflogen 1944 alliierte Bomber die Stadt, die mit dem Schweizer Ort Kreuzlingen verwachsen ist. Keine einzige Bombe wurde abgeworfen. Heidelberg ist durch eine Ruine und ein leeres Weinfass berühmt geworden, Konstanz durch gefüllte Weinfässer und die Abwesenheit von Ruinen.

Die Sommermonate sind für Daniel Groß Hauptsaison. „Da sammle ich mir das Polster für den Winter an, wenn viel weniger los ist“, sagt er. In der Ferienzeit läuft er 60 bis 80 Mal pro Monat mit einer Gruppe durch die Stadt. Das schlaucht, gibt er zu, und er freut sich auf die rettende Johannisbeerschorle nach der Tour.

Stadführungen als Lebensaufgabe

Derzeit trägt er eine dicke Bandage am Knie. „Materialverschleiß“, witzelt er über die eigenen Knochen. Krankmachen? Da müsste schon viel passieren. Er ist selbstständiger Geistes- und Kulturarbeiter. Die Führungen zwischen Rhein und See und Münsterplatz füllen seine Haushaltskasse. Groß kann sich vieles vorstellen, aber nicht, dass man nebenher eine Stadt erklärt. Das ist schon ein Hauptberuf und Lebensaufgabe.

Abends geht es gerade so weiter. In seiner Wohnung stapelt der Historiker eine still wachsende Sammlung, die sich ausschließlich um Konstanz dreht. Besonders spannend sind alte Fotografien, die er aus Nachlässen oder Versteigerungen ergattert. Er öffnet seine Umhängetasche und zieht einen Packen historischer Fotos hervor. „Die zeige ich während meiner Führungen.“

Lehrreiche Minuten stibitzen

Er deutet auf ein unscheinbares Haus, das auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme zu sehen ist. „Heute ist es kaum wiederzuerkennen“, sagt er. Es ist inzwischen vollständig bemalt mit Szenen aus der Zeit des großen Konzils – der kurzen Epoche, in der Konstanz tatsächlich die improvisierte Hauptstadt Europas war.

Übrigens gibt es zwei Arten von Geschichtspädagogen. Die einen halten ihre Schäflein brav beisammen und schauen, dass sich auch ja kein Fremder zu der Herde stellt und ein paar lehrreiche Minuten stibitzt. Schließlich hat er ja nicht bezahlt, und angemeldet hat er sich auch nicht. Groß hält es anders. Er freut sich über jeden, der im Vorbeigehen kurz stehenbleibt und zuhört. Dann wird er für fünf Minuten mit Niveau unterhalten. Oder für fünf Minuten in die schmalen Feuergassen geführt, die zu den bevorzugten Orten des badischen Geschichtserzählers zählen.

Sein Lieblingsort: die Krypta des Münsters mit dem thronenden Christus

Und dann immer wieder das in Steine aus edlem Grau gehüllte Münster. Daniel Groß lotst seine Zuhörer fast immer in den kühlen Innenraum. Der Grund ist freilich nicht spiritueller Natur. „Dann könnet‘se einmal sitzen und sich ausruhen.“ Außerdem kann er hier eine Menge zeigen, seine Leute müssen nur die Köpfe verdrehen oder an die Decke schauen, dann blättern sie mit den Augen in einem Katalog der Kunstgeschichte.

Während er plaudert und auf eine liebliche Madonna zeigt, wandern die Blicke seiner Gruppe mit – halb ehrfürchtig, halb nickend. Sie sind in jener Kirche angekommen, die früher den Mittelpunkt des größten Bistums deutscher Sprache bildete. Das ist eine eigene Liga. Groß kostet das Staunen seiner Gemeinde aus.

Lieblingsplatz ist die Krypta

Sein Lieblingsplatz im Münster liegt freilich nicht im gut besuchten Hauptschiff. Man muss erst zwei Dutzend Stufen hinunter gehen, bevor man die Krypta erreicht. Dort hängt eine Holzscheibe an der Wand, die mit dünnem Kupferblech überzogen ist. Mit Blattgold wurden von unbekannter Hand die Konturen eines thronenden Christus aufgetragen. Beim Betrachten der Scheibe wird auch dieser wortselige Erklärer still. Das ist ziemlich ungewöhnlich für den Daniel Groß.

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