Kunterbunt bedecken Hängematten und Sitzsäcke den Wilhelmsplatz: Bis Sonntag lädt die Initiative „Stadtlesen“ zum kollektiven Schmökern ein und hat dafür 3000 Bücher mitgebracht. Öffentliches „Stadtlesen“ statt Smartphone checken. Unser Kolumnist Uwe Bogen beschreibt, was für Überraschungen man auf der Lese-Insel im Großstadt-Getriebe erlebt.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Ich hab’ keine Zeit, mich zu beeilen.

 

Die Sonne zeigt, dass sie noch brennen kann. Aber nicht an ihr liegt’s, warum der Wilhelmsplatz mehrere Lastwagenladungen an Sitz- und Liegeplätzen bietet. Die Aktion „Stadtlesen“ ist mit Bücherregalen auf ihrer Europatour in Stuttgart angekommen und bleibt noch bis Sonntag hier. Als „Kunst- und Kulturprojekt“ versteht sich das von österreichischen Kreativen ausgedachte Lesefestival und möchte im öffentlichen Raum zum Schmökern verführen. Ein sympathischer Werbeauftritt für die haptischen Genüsse mit dem guten, alten Buch.

Beim Sonnenbad auf der roten Hängematte brennt sich mir ein Gedanke in den Kopf. „Ich hab’ keine Zeit, mich zu beeilen“ – auf dieses Zitat von Igor Strawinsky bin ich beim „Stadtlesen“ gleich zu Beginn gestoßen.

Auf der Titelseite des Magazins „Flow“, das zwei österreichische Betreuerinnen des Bücherfestes wie auch gesponserte Buchstabensuppe verschenken, steht dieser großartige Satz.

Ein Lesebuch für Nachdenkliche

Immer in Eile zu sein, ist Zeitvergeudung.

Der Wilhelmsplatz wird zur Insel inmitten von Hektik und Eile. Während ich auf meiner Hängematte sanft schaukle, schließe ich die Augen und lausche dem Verkehrslärm von anfahrenden und bremsenden Autos. Mir fällt ein Modewort ein, das manch einer voller Ehrfurcht verwendet, als sei es heilig. Achtsamkeit, sagen Lebensberater, ist eine Methode zur Verminderung von Leiden. Achtsam höre ich, wie Bässe wummern aus der Musikanlage eines Cabrios. Hupen, Bellen, Kindergeschrei.

Vier Schüler haben sich auf die Lesesäcke gestürzt und denken nicht ans Lesen. Ihnen gefällt die Inszenierung des Platzes als „Lese-Wohnzimmer“ mit ungewöhnlicher Stadtmöblierung, sie machen ihn zum Spielplatz. Ein älterer Mann schiebt scheppernd einen Klappstuhl in den Schatten, um seine Nase in einen Bildband zu stecken. Die Augen kannst du schließen, die Ohren nicht.

Die Geräusche einer Großstadt – das ist der Lärm der anderen. Wenn es einem Buch gelingt, dich zu fesseln, zieht sich der Soundtrack der City auf die Ränder deiner Wahrnehmung zurück. Du hörst nichts mehr, sondern genießt nur noch deine Einsamkeit mit dem Wort.

Ungeordnet stehen in der mobilen Bibliothek des „Stadtlesens“ Bücher wie „Warum wir Politiker nicht trauen können“ und „Reiseführer Lübeck“ nebeneinander. Nach dem Zufallsprinzip fische ich einen dicken Band mit dem Titel „Rohrkrepierer“ sowie das kleine Büchlein „Freundschaften – Ein Lesebuch für Nachdenkliche“ heraus.

Nur Zufall? Manch eine Freundschaft erweist sich als Rohrkrepierer.

Journalismus ist Literatur in Eile

Ich hab’ keine Zeit, mich zu beeilen.

Und tatsächlich vergesse ich nun, dass wenige Meter weiter der Verkehr tost. Noch ein Zitat schnapp’ ich beim Blättern auf: „Journalismus ist Literatur in Eile.“

Ja, wir Journalisten sind fast immer in Eile. Wir haben den Ehrgeiz, unsere Leserinnen und Leser möglichst schnell zu informieren. Um Literatur geht es dabei nicht. Das ist eine andere Wort-Baustelle. Für zwei Stunden habe ich mich aus dem Pressehaus ausgeklinkt, um auf dem Wilhelmsplatz die Geschwindigkeit des Lebens zu überlisten.

In dem hellblauen Freundschaftsbüchle – also das für Nachdenkliche – wird gewarnt: „Nimm dich in Acht vor dem Freund, denn vor dem Feind kannst du dich zur Wehr setzen.“ Bei Freunden, lese ist weiter hinten, werde man oft enttäuscht. Das Einzige, was deine Liebe lohne, seien Bücher, findet der Autor Jakob Haringer. Bücher mit ihren Sehnsüchten, Träumereien und Seligkeiten, Bücher, die dir Wunderwelten eröffnen.

Naja, auch Bücher haben mich schon enttäuscht, hochgeschätzter Dichter.

Auch das ist eine Gemeinsamkeit deiner möglichen Glücksbringer: Bei Büchern wie bei Freunden kommt’s darauf an, die richtigen zu finden, die für dich da sind. Um die richtigen zu finden, darf man sich Zeit lassen und die Eile vertreiben.

Ich hab’ keine Zeit, mich zu beeilen.

Manchmal ist es schön, einer Stadt zu lauschen, mit freilaufenden Gedanken abzuhängen und langsam zu werden.