Dieses Bild von Évora sollte man vor Augen haben, wenn man sich in die Siedlung Malagueira begibt. Dort kehren diese unverwechselbaren Merkmale, die sich in zahlreichen Details zu erkennen geben, wieder; es ist der materielle Fingerabdruck der Geschichte und der Baukunst.

 

Tritt man durch die monumentale Porta de Alconchel auf die Avenida São Sebastião nach Westen (Richtung Lissabon), passiert man einen hochgelegenen, von einer langen, leuchtend weißen Mauer eingefassten Friedhof linker Hand; bald senkt sich der Weg und führt unter großen Platanen hindurch – Blätter wie Tigerpranken auf der Erde –, vorbei an dem nüchternen Zweckbau eines Busbahnhofs aus hellem Beton, während auf der anderen Seite der Kubus eines perfekt portionierten Barockhäuschens seiner Restaurierung entgegensieht. Es ist das Haus des Viehmarkts gewesen: „Mercado de Gados“.

Der Weg führt vorbei an einem etwas tiefer gelegenen, langen, solitären und jetzt verwaisten, aber immer noch bis zum Rand gefüllten Marmorbecken – eine Viehtränke? Eine Waschbank? –, dazwischen schüttere Bäume, schlammiger, dunkler Boden, Mauerreste, in schründiges Grau und verwaschenes Weiß getaucht, mürbe und rissig geworden über die Jahre, die Jahrzehnte – zerkratzter, struppiger, zweckloser Stadtrand. An der tiefsten Stelle angelangt, quert ein schmaler Bach den Weg, doch in ihm ist immer noch so viel strömendes Leben, dass man ihn fließen gehört, ehe man ihn gesehen hat.

Der Topografie des Geländes folgend

Jenseits dieses Rinnsals hebt eine Wiese, ein Brachland an, dehnt sich ein wenig in die Breite und führt den Blick auf die leuchtend weiße, ruhig ansteigende, der Topografie des Geländes folgende Siedlung Malagueira von Álvaro Siza.

Und hoch am Himmel wiederholt sich, einer seltsamen Laune der jahreszeitlichen Natur folgend, das Farbenspiel der Baukultur: in ruhigen Zirkeln ziehen die Störche, schwarz-weiß gefiedert und rotbeinig, gelegentlich im Dunst fast verschwindend, ohne einen Flügelschlag ihre Bahn. Und knapp über dem Boden, schwarz auf hellem Gemäuer, sicheln die Schwalben akrobatisch durch die Gassen und würzen mit ihren Schreien die hellen Lüfte.

Zwischen den Steinfarben leuchten die ziegelroten Hausdächer, die weiß gestrichenen Fassaden; ockergelbe Rahmen säumen die Laibungen der Fenster und Türen und laufen, beinhoch, wie ein endloses Strumpfband die Häuser entlang. Sie akzentuieren, auf- und absteigend, den eng gewundenen Raum der Gassen; chromatische Monotonien ungemischter Elemente überlagern sich zu einer kräftigen Physiognomie der Stadt.

Die neue Siedlung greift die Merkmal der Stadt auf

Dieses Bild von Évora sollte man vor Augen haben, wenn man sich in die Siedlung Malagueira begibt. Dort kehren diese unverwechselbaren Merkmale, die sich in zahlreichen Details zu erkennen geben, wieder; es ist der materielle Fingerabdruck der Geschichte und der Baukunst.

Tritt man durch die monumentale Porta de Alconchel auf die Avenida São Sebastião nach Westen (Richtung Lissabon), passiert man einen hochgelegenen, von einer langen, leuchtend weißen Mauer eingefassten Friedhof linker Hand; bald senkt sich der Weg und führt unter großen Platanen hindurch – Blätter wie Tigerpranken auf der Erde –, vorbei an dem nüchternen Zweckbau eines Busbahnhofs aus hellem Beton, während auf der anderen Seite der Kubus eines perfekt portionierten Barockhäuschens seiner Restaurierung entgegensieht. Es ist das Haus des Viehmarkts gewesen: „Mercado de Gados“.

Der Weg führt vorbei an einem etwas tiefer gelegenen, langen, solitären und jetzt verwaisten, aber immer noch bis zum Rand gefüllten Marmorbecken – eine Viehtränke? Eine Waschbank? –, dazwischen schüttere Bäume, schlammiger, dunkler Boden, Mauerreste, in schründiges Grau und verwaschenes Weiß getaucht, mürbe und rissig geworden über die Jahre, die Jahrzehnte – zerkratzter, struppiger, zweckloser Stadtrand. An der tiefsten Stelle angelangt, quert ein schmaler Bach den Weg, doch in ihm ist immer noch so viel strömendes Leben, dass man ihn fließen gehört, ehe man ihn gesehen hat.

Der Topografie des Geländes folgend

Jenseits dieses Rinnsals hebt eine Wiese, ein Brachland an, dehnt sich ein wenig in die Breite und führt den Blick auf die leuchtend weiße, ruhig ansteigende, der Topografie des Geländes folgende Siedlung Malagueira von Álvaro Siza.

Die – immer noch wachsende – Siedlung Malagueira ist in mehrfacher Hinsicht eine singuläre Setzung. Sie entstand als kommunalpolitisches Projekt aus dem Geist der portugiesischen Revolution von 1974. Anders als die historisch fragwürdigen Städtebauentwürfe der sowjetischen Planwirtschaft und die autoritär strukturierten französischen Musterstädte waren es hier Kooperativen der Bewohner selbst, die eine dezentralisierte Organisation zuwege brachten. Wie der Soziologe Jean-Michel Léger festhält, ist „Malagueira wahrscheinlich auch die weltweit einzige Wohnsiedlung dieser Größenordnung, in der die drei Grundformen von kooperativem Eigentum, kommunaleigenen Landparzellen und Sozialmiete in einer einzigen Bauherrschaft vereint sind, jener von Siza und seinen Partnern, unter der Leitung von Nuno Ribeiro Lopes“.

Als Glücksfall darf verbucht werden, dass der äußerst engagierte kommunistische Bürgermeister von Évora Abilio Dias Fernandes 25 Jahre die Stadt regierte und die vielen Versuche, das Projekt zu Fall zu bringen, vereiteln konnte.

Setzung, in freien Zeichnungen dokumentiert

Eine Setzung ist Malagueira aber auch, weil hier der häufig überstrapazierte genius loci gewissermaßen bei seiner Entstehung und (hoffentlich unumkehrbaren) Konsolidierung beobachtet und erlebt werden konnte – nicht als abstraktes städtebauliches Dekret, sondern als Handreichung (im Sinne der zeichnenden und sinnstiftenden Hand) des Architekten und Stadtplaners an die künftigen Bewohner. In Sizas Skizzen und kühnen freien Zeichnungen manifestiert sich eine unaufdringliche Anteilnahme an den Besonderheiten des zu begründenden Ortes. Es ist nicht der Zeichner, der Entwerfer, der dem Ort, der Topografie seine Handschrift aufdrücken will, sondern es ist der Ort, die auf ihn zu versammelnden Aktivitäten und die dafür zu findende Typologie, welche Sizas Hand führen.

Dass und warum er mit der Hand in einem ganz emphatischen Sinn zeichnet und was aus der Zeichnung folgt, hat er einmal selbst begründet: „Man kann Tausende Modelle und Tausende Zeichnungen machen, aber nichts ersetzt die reale Raumerfahrung. In Portugal bin ich immer auf die Baustelle gegangen und habe mit den Arbeitern gesprochen: ‚Es wäre besser, wenn wir das hier komplett offen lassen würden.‘ . . . Eine Baustelle zu besuchen, war eine echte Freude.“ Geht man durch Malagueira, kann man das aktive Auge, die korrigierende Hand von Álvaro Siza auf Schritt und Tritt verfolgen.

Wiederaufnahme der historischen Substanz

Die sanft geschwungenen, steinernen Stufungen und Terrassierungen von Évora setzen sich hier fort. Als würde die alte Stadt weitergeschrieben, ähnlich und anders. Die Typologie – das kubische Haus mit Patio – kommt in dieser kargen, von Siza entworfenen Form in Évora nicht vor, doch sind es die Strenge und Reihung der Bauform, die fächerartig gestuften, quer zum Hügel angelegten Gässchen, in denen sich das alte Évora auch hier widerspiegelt.

Vorherrschend hüben wie drüben die weißen Mauern, doch während in Évora die roten Ziegeldächer wie ein geriffeltes Tuch über die Stadt geworfen sind, wird hier ein Teil der Flachdächer der fugenlos aneinandergefügten, ein- und zweigeschossigen Häuser von einem Mauerwerk aus grauem Betonstein überdacht. Bewusste Wiederaufnahme, Interpretation und Übersetzung der historischen Substanz, Respekt gegenüber den anonymen Baumeistern des exzentrischen Aquädukts; in dessen rechteckigen Hohlräumen verlaufen die Leitungen für Wasser, Gas und Elektrizität. Wenn es sich fügt, wird diese überdachende Lebensader zur Durchfahrt, zum Türsturz, zum Tor. Und wie ein diskretes Zitat, ein helles Echo aus dem marmornen Évora sind in einige Betonstelen schmale Marmorleisten intarsiert. Und als hätte es sich unterirdisch fortgesetzt, taucht das auch ockergelbe Band an den Außenmauern (wie in Évora) auch hier wieder auf – chromatisches Orament und Wink aus der Hügelstadt. Die von Siza entworfenen Wohnkuben sind ungewöhnlich plastische Gebilde – sie ähneln in künstlerischer Hinsicht, in ihrem klaren Gefüge und ihrer knochigen Festigkeit Skulpturen von Eduardo Chillida. Sie öffnen sich nach innen, darin anderen mediterranen Kulturen folgend. Wenn die Nachbarschaft so dicht ist, ist es ratsam, sich einen Binnenraum zu erhalten. Auf den Kachelböden der kleinen Höfe wachsen dunkel belaubte Orangen- und Zitronenbäumchen; die ringsum weißen Wände lassen Laub und Frucht noch plastischer hervortreten als in der Landschaft.

Bescheidenheit und Rücksicht

Nirgendwo ist geleugnet, dass diese Siedlung mit bescheidenen, immer neu erkämpften Mitteln gebaut wurde. Das nüchtern Maßvolle, die notgedrungene Bescheidenheit, die unbedingte Rücksicht auf die Grundbedürfnisse der hier hergezogenen, ehemaligen Landarbeiterfamilien werden nicht durch Fassadenschmuck kaschiert oder überhöht.

Zwischen den einzelnen Siedlungsabschnitten finden sich noch freie Flächen, am Wegrand sind winzige, locker ausgesteckte Küchengärten mit Wintergemüse und Kräutern angelegt. Das unbebaute Terrain wartet darauf, weiter bebaut zu werden. An Entwürfen dafür, vor allem solchen, die eine Erweiterung und Intensivierung des öffentlichen Raums betreffen, fehlt es nicht.

Denkmal der Aprilrevolution

Die Beharrlichkeit, mit der Siza und seine Mitstreiter dieses lebendige Denkmal der Aprilrevolution von 1974 vorangetrieben haben, ist bewundernswert – und es verrät auch etwas über die besondere Qualität und die Intentionen dieses Baumeisters: zu wissen und planerisch zu bedenken, dass ein Wohnhaus, ein Siedlungsrayon sich erst und vor allem mit der Anerkennung, der Gewöhnung der dort Einwohnenden allmählich vollendet, dass bestimmte Bauvorhaben gewissermaßen unfertig (aber natürlich nicht unwirtlich) sein müssen, damit sich an ihnen, im Zusammenspiel mit den Bewohnern, ein fast naturwüchsiger Prozess der Reifung entfaltet.

Malagueira ist kein Gegenentwurf zu Évora, sondern eine organische, typologisch neuartige Ergänzung der alten Stadt. Indem Álvaro Siza – hier Évora folgend – die Topografie respektiert, ja mehr noch: indem er sie zur unverzichtbaren Grundlage seines Entwurfs macht, gelingt ihm das Kunststück einer Domestikation der natürlichen Gegebenheit durch die Baukultur.

Álvaro Siza und Malagueira

Álvaro Siza Vieira, der vor wenigen Wochen seinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte, ist der namhafteste Architekt seines Landes und einer der wichtigsten europäischen Vertreter seiner Zunft. Kurz nach der Aprilrevolution von 1974 erhielt er den Auftrag, in seiner Heimatstadt Porto die Sozialsiedlung Bouça II zu bauen, in der er bereits seine Version der Moderne zeigte: die Entwicklung zeitgenössischer Wohn- und Siedlungsformen nach dem Vorbild der örtlichen Tradition mit ständiger Rücksicht auf die Gegebenheiten der bebauten Umgebung und der Landschaft. In Deutschland hat Siza vor allem im Berliner Wohnungsbau deutliche Spuren hinterlassen, etwa mit dem Wohnhaus Schlesisches Torin Kreuzberg („Bonjour Tristesse“).

Álvaro Siza hat zahlreiche internationale Ehrungen erhalten. Für den Wiederaufbau des abgebrannten Lissabonner Altstadtviertels Chiado wurde er 1992 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet, 1998 erhielt er den Praemium Imperiale. Sein internationaler Durchbruch war aber die Auszeichnung mit dem Prince-of-Wales-Preis in Urban Design, mit dem die Universität Harvard 1988 sein städtebauliches Projekt Évora-Malagueira würdigte.

Sizas seit bald vier Jahrzehnten andauerndes Engagement für die noch längst nicht abgeschlossene Siedlung Malagueira würdigt ein kürzlich erschienener großformatiger Band des Freiburger Syntagma Verlags. Das Buch dokumentiert in zahlreichen Fotos Geschichte und Gegenwart des immer wieder hochumstrittenen Projekts, zeigt die erhellenden Skizzen, in denen der Architekt die Vision seiner Pläne entstehen lässt, und beleuchtet sein Werk in mehreren großen Aufsätzen. Das Vorwort zu dem Band stammt von Hanns Zischler; dieser Beitrag ist eine erweiterte Fassung dieses Vorworts.