Geschichten von der Bildung durch Zigaretten rauchen, von blutigen Hinrichtungsszenen an der Urbanstraße und von der Autostadt sind das Thema von Stadtführer Volker Karcher.
Stuttgart - Volker Karcher bringt Ortskundige zum Staunen, obwohl er seinen Stadtspaziergang „ Auch für Touristen“ betitelt hat. Karcher gehört zur Greeter-Bewegung, die in den 1990er Jahren in New York entstand. Die ehrenamtlich tätigen „Begrüßer“ zeigen Fremden alternativ zu den offiziellen Angeboten ihre Stadt. Er selbst wurde zum Stadtführer, nachdem er alle gemeinsam von der Stiftung Geißstraße und der Stuttgarter Zeitung organisierten Stadtspaziergänge mitgemacht hatte. „Oft kannte er die Details besser, als der Stadtführer selbst“, bemerkte Michael Kienzle von der Stiftung Geißstraße. Der 96. Spaziergang am 14. April fand deshalb unter Karchers Regie statt.
Erfinder der Brezel
„Ich will Sie anfüttern, auf Stellen zu schauen, die man sich sonst nicht so ansieht“, kündigte er an. Und dazu gehört auch seine Leidenschaft für den Hinweis auf Längs-und Querachsen in der Stadtplanung. Der Start war bei der Eberhardsgruppe, die wegen der Bauarbeiten für Stuttgart 21 umziehen musste. Das Marmordenkmal, das der Bildhauer Paul Müller 1881 zu Ehren des Fürsten Eberhard I. geschaffen hatte, wurde aus dem mittleren Schlossgarten in die Nähe des Hotels am Schlossgarten versetzt, Der Fürst gilt als Erfinder von zwei Stuttgarter Wahrzeichen: der Kehrwoche und der Brezel. Karcher allerdings würdigte vor allem dessen Ehefrau Barbara Gonzaga: „Sie brachte italienisches Flair hierher. Eigentlich müsste sie den Namen der Tübinger Universität tragen.“
Autopioniere im Bohnenviertel
Karcher sucht die Bezüge zu anscheindend nicht zusammengehörenden Orten und Begebenheiten. Was hat der Fernsehturm mit der Eberhardsgruppe an der Schillerstraße zu tun? Fernsehturm und der Ferdinand-Leitner-Steg sind von dem Architekten Fritz Leonhardt gebaut. Die benachbarte Metallplastik von Wander Bertoni, der Ikarus, in der Nähe von Europas größtem Dreispartenhaus, symbolisiert für Karcher die Autostadt. Der begegnet man in seiner Führung häufig: Einerseits in Gestalt der B 14, die Kulturmeile und Sichtachsen durchtrennt, andererseits wird auch dem schwäbischen Tüftlergeist gehuldigt. Eine unscheinbare Stahltafel am Gebäude neben der Weinstube Stetter in der Rosenstraße im Bohnenviertel erinnert an die Wagner Werkstätte von Adolf Wilhelm Wimpff und Söhnen. Sie belieferten Gottlieb Daimler mit dem vierrädrigen Kutschenmodell „Americain“ und trugen so zur Entwicklung des Automobils bei.
Ein Stück Berliner Mauer
Karchers Beschreibungen quellen über von teils kuriosen Details. So berichtet er vor dem Landtag: „Die Präsidentin Muhterem Aras sitzt unter einem Wappen, das aus den Blitzableitern des Freiburger Münsters gefertigt ist.“ Der Platz, auf dem die Stadtspaziergänger zwischen Großem Haus und Landtag stehen, war nach dem Zweiten Weltkrieg der Tennisplatz der amerikanischen Besatzer und in der Oper hielt 1946 James F. Byrnes seine viel beachtete Rede zu Wiederaufbau Deutschlands. Ein Stück Berliner Mauer, ein Geschenk des früheren Bild-Chefs Kai Dieckmann, an der Konrad-Adenauer-Straße erinnert an einen weiteren Meilenstein deutscher Geschichte.
Grundriss in Form eines Flügels
Eine Pflichtstation für ihn ist beim Stadtspaziergang der Gang durch die Unterführung zur Staatsgalerie: Dort verdeutlicht eine Skizze die städtebauliche Anordnung der Kulturmeile. Die Musikhochschule hat in der Draufsicht die Form eines Flügels „vielleicht eine Anspielung an die einstige Pianofabrik Schiedmeyer in der Neckarstraße?“ fragt sich Karcher. Im Innenhof der mit Cannstatter Marmor, dem Travertin, verkleideten neuen Staatsgalerie gibt er das Mikrofon an einen der Spaziergänger, der über den Widerstand berichtet, den Travertinpark zum Recyclingpark umzuwandeln.
Auch die Inschrift zum Gedenken der über 400 hingerichteten politischen Häftlinge im Innenhof des heutigen Oberlandesgerichts in der Urbanstraße mag den wenigsten Stuttgartern bisher aufgefallen sein. Und später im Bohnenviertel weist der Stadtführer, der nach eigener Aussage erst nach etlichen Jahren seines Aufenthalts in Stuttgart, die Stadt lieben gelernt hat, auf eine Graffiti mit erfreulichem Inhalt hin: „Das Schönste, was wir erleben können ist das Geheimnisvolle“, steht auf auf einer Holztüre.
Bildung durch Rauchen
„Allerleihrau“ heißt der Waldorfkindergarten in einem Häuschen in der Rosenstraße. Der Zigarettenfabrikant Emil Molt, der zusammen mit Rudolf Steiner, die Walddorfpädagogik gegründet hatte, legte seinen Zigarettenpackungen stets einen Zettel mit literarischen Zitaten aus Werken deutscher Autoren bei. Darüber stand: „Rauch’ dich gebildet.“ Ganz zum Schluss hatte Karcher eine anscheinend unlösbare Frage parat: Weshalb wächst vor dem Alten Schloss eine chinesische Blasenesche?