Landtagspräsidentin Muhterem Aras hat zu Orten der Demokratie in Stuttgart geführt und damit ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erinnerungskultur gehalten.

Stuttgart - „Frechheit!“ Empörte Einigkeit herrscht unter den etwas mehr als 20 Frauen und Männern, die auf dem Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz zusammenstehen. Nicht nur wegen des großen, beklebten Müllcontainers, den jemand lieblos unter das unauffällige Straßenschild platziert hat. Die Situation des Platzes an sich löst Kopfschütteln aus. „Garageneinfahrt zu Parkhaus, keine Aufenthaltsqualität, Hinterhof der Königstraße“, schimpft jemand. Muhterem Aras, Präsidentin des Landtags, nimmt die Kritik auf. Bewusst hat sie sich diese Station ausgesucht: „Das ist leider ein Unort, an dem man nicht bleiben will!“ Dabei feiere man gerade 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Auch angesichts der Zunahme von rassistischen und antisemitischen Übergriffen müsse dieses Jubiläumsjahr für die Stadt ein Anlass sein, hier etwas zu tun. Ihre Forderung: „Es geht darum, mit einer würdigen Gestaltung des Joseph-Süß-Oppenheimer-Platzes zu zeigen, dass jüdisches Leben hierhergehört und unsere Gesellschaft bereichert.“

 

Ein nicht eingelöstes Versprechen

Joseph Süß Oppenheimer war gewissermaßen der Finanzminister von Herzog Karl Alexander von Württemberg. Nach dessen Tod wurde er Opfer eines grausamen Justizmords, bei dem auch Judenfeindlichkeit eine Rolle spielte. Am 4. Februar 1738 wurde Oppenheimer auf dem Stuttgarter Galgenberg nahe des heutigen Pragfriedhofs vor großem Publikum erdrosselt und seine verfallende Leiche sechs Jahre lang in einem Käfig ausgestellt. Angeregt von der Stiftung Geißstraße, ist der zwischen Schulstraße und Neuer Brücke liegende Platz 1998 nach ihm benannt worden – in Anwesenheit von Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, und von Ex-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. „Man hat Bubis damals versprochen, diesen Ort würdig umzugestalten“, betont die Bezirksvorsteherin Stuttgart-Mitte, Veronika Kienzle. Geschehen sei wenig. Die Platzgestaltung müsse jetzt angegangen werden. „Das Beispiel Kronprinzstraße macht deutlich, wie das trotz Tiefgarage gelingen kann.“

Der Oppenheimer-Platz ist die letzte Station des Spaziergangs zu „Orten der Demokratie in Stuttgart“, den Aras am Samstagvormittag unternimmt. Der Rundgang steht ganz im Zeichen der Themen, die ihr wichtig sind: Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt, Stärkung der parlamentarischen Demokratie und Erinnerungskultur. Aras war für einen Beitrag zu dem jüngst erschienen Buch „Spazieren in Stuttgart“ angefragt worden, in dem die Stiftung Geißstraße ihre Tradition der Stadtspaziergänge dokumentiert. Aras bevorzugte die direkte Ansprache – in Form eines eigenen Stadtspaziergangs, wie Michael Kienzle, Geschäftsführender Vorstand der Stiftung Geißstraße, betont.

Ein Stadtspaziergang, bei dem lebhaft diskutiert wird

Es ist ein emotionaler Rundgang. Geschichte sei gegenwärtig, sagt Aras bei der Begrüßung im Landtag, wer das Gestern kenne, könne im Heute erkennen, wann es gefährlich für die Demokratie werde, und für die Werte des Grundgesetzes einstehen. Und es wird lebendig diskutiert – wie schon an den Stationen zuvor, zu denen Aras geführt hat. Etwa vor dem Stadtpalais, wo ein Meinungswettstreit entbrennt, wie ein Museum für Stuttgart bespielt werden sollte und ob es richtig war, das S-21-Denkmal des Künstlers Peter Lenk abbauen zu lassen. Debattiert wird auch an der Ecke Schlossplatz/Marquardtbau, d em einstigen Hotel . Dort erinnert Aras an den Mai 1849. Die größten deutschen Staaten und der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hatten die Paulskirchenverfassung abgelehnt, der württembergische Abgeordneten Friedrich Römer hatte die rund 150 verbliebenen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung daraufhin kurzfristig nach Stuttgart geladen. Doch die rangen nur kurz um eine demokratische Verfassung. Ein Zug der Abgeordneten zum Fritzschen Reithaus in der Langen Straße wurde am 18. Juni gewaltsam aufgelöst. Auch das Marquardt war umstellt worden, in das manche sich zurückgezogen hatten.

Geschichte soll in der Stadt besser sichtbar werden

Aus Sicht der Landtagspräsidentin zeugt die Situation des benachbarten Metropol-Kinos von wenig Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz von Geschichte. In das denkmalgeschützte Kino soll eine Boulderhalle für Kletterer einziehen. Eine städtische Tochtergesellschaft hatte es vor Jahren an die Investmentgesellschaft Union Investment verkauft. „Solche Bauten sollten in der Hand der Stadt bleiben“, meint Aras und betont, dass Geschichte im Stadtraum viel besser sichtbar gemacht werden müsse.

Wie dies im Landtag Baden-Württemberg geschieht, zeigt sie zu Beginn des Spaziergangs. Am Eingang zum neuen Bürger- und Medienzentrum liegt – analog und digital – ein Gedenkbuch für jene Abgeordneten aus, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten verfolgt worden waren. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ prangt als Schriftzug darüber, Artikel eins des Grundgesetzes. „Die Basis für alles“, sagt Aras. „Es ist mein Lieblingsartikel.“