In Stuttgart gibt es mehr als 400 Stäffele, was nicht verwundert, weil bis zu 342 Meter Höhenunterschied bewältigt werden müssen. StZ-Redakteur Jürgen Löhle hat eine Stäffeles-Tour unternommen und kam zum Schluss: Die Mühe hat sich gelohnt.

Stuttgart - Die Gesichtsfarbe des Mannes changiert zwischen einem dezenten Trollinger-Rot und einem blutdruckschwangeren Lila. „Noch eine Treppe“, raunzt der sichtlich angestrengte Mann, „dann . . . „ Hier muss das Zitat leider abgebrochen werden, da eine verbale Beleidigung der Landeshauptstadt dem SWR-Tatort vorbehalten bleiben soll. Dem sichtlich erregten Mann ist freilich vorzuwerfen, dass er als gebürtiger Stuttgarter hätte wissen können, dass seine Stadt innerhalb ihrer Grenzen bis zu 342 Meter Höhenunterschied aufweist, den man zu Fuß vorzugsweise mit Staffeln oder Stäffele (auf keinen Fall Treppen) überwindet.

 

Und genau zu diesem Behuf ist eine Gruppe drei Stunden zuvor am Großen Haus losgelaufen. Eine Stäffelestour von der Mitte durch den Osten, keine organisierte, eine private, mit einem im westfälischen Hagen geborenen Führer, der uns Einheimischen jetzt auch unsere Stadt erklären will.

Mehr als 400 Staffeln gibt es in Stuttgart

Nun gut, zuerst die Fakten: Im Stadtgebiet von Stuttgart zählt man über 400 Staffeln die immerhin zusammen etwa 20 Kilometer lang sind. Das ist eine ganze Menge Tritt und die Ginsterstaffel vom Gablenberger Schmalzmarkt hinauf in die Siedlung Buchwald ist eine der längsten. Und steilsten, weshalb der Herr vom Beginn erst einmal seinen Kropf leeren muss ob der Schinderei. Der Schwabe sei schließlich keine Gams, ächzt er.

Zurück zum Start: Vom Staatstheater geht es erst einmal durch die Unterführung und danach zur Musikhochschule. Die hat eine tolle Aussichtsplattform, die der Stäffeles-Laie euphorisch über das elend lange Treppenhaus und der Profi in Kenntnis seiner Kondition elegant mit dem Aufzug erklimmt. Stäffele kommen schließlich noch genug. Mehr als genug. „Versprochen“, sagt der Westfale. Nach dem Turm geht es weiter über die Eugenstaffel zum Eugensplatz und von da ein Stück die Alexanderstraße hinunter. Nach der Nummer 6 rechts weg in die Gaisburgstraße, eine alte Verbindungsstraße für Pferdefuhrwerke. Da musste man früher noch zusätzlich einen Satz Pferde anspannen, so steil ist es hier. Aber auch der längste Gaisburger Marsch abwärts ist irgendwann vorbei, man wundert sich über die große Ruhe so nahe der pulsierenden Hohenheimer Straße, und dann geht es auch schon wieder bergauf. Aber nicht, ohne vorher von der Pfizerstraße weg einen kleinen, stäffelesfreien Seitenblick in den Park der Villa Scheufelen zu werfen – ein riesiges, wild wucherndes Wiesenstück wie ein Ursteppe und das mitten im Städtle unweit vom Olgaeck.

Die Sünderstaffel war einst ein Richtplatz

Jetzt aber weiter. Der Westfale erklärt, und der Schwabe schwitzt. Über die Sünderstaffel, die einst mal ein Richtplatz gewesen sein soll, schindet man sich durch ruhiges, grünes, elend steiles und immer wieder von Staffeln und prächtigen Villen durchsetztes Stuttgart, bis man die Richard-Wagner-Straße erreicht. Ein paar Hundert Meter weiter taucht rechts die Villa Reitzenstein auf, das herrlich gelegene Auge der Macht. Wir schauen aber lieber links von der Aussichtsplattform hinunter auf die Stadt. Der Westfale erklärt, was wir mit unseren schweißbrennenden Augen sehen. Dann sagt er noch lächelnd, dass es jetzt „easy going“ weiterginge.

Genau genommen vorbei am Heidehofgymnasium und an der Robert-Bosch-Stiftung und dann meniskusquälend die Strausstaffel hinunter. Mittlerweile pfeifen im Oberschenkel Muskeln an völlig unbekannten Stellen. Und was bei langen Abwärtsgehen „easy going“ sein soll, ist auch nicht so ganz klar. Auf jeden Fall ist Stuttgart stäffelesmäßig höchst erstaunlich. In einem stattlichen Bürgerhaus am relativ steilen Wegesrand wohnt übrigens ein gewisser Albert Einstein im dritten Stock.

Und dann schließlich besagte Ginsterstaffel. Für sich allein sicher ganz nett, aber nach dem ganzen Auf und Ab doch ein wenig die Hölle. Und oben geht es erst einmal steil weiter durch die Straße Im Buchwald. Die Lunge pfeift, die Laune sinkt, und dann erscheint links die Hausnummer 71. Endlich oben? Natürlich nicht, die nächste Staffel. Himmel hilf, mitten in der Kletterei und gefühlt kurz unterhalb der Baumgrenze steht ein Haus mit einem Aufkleber am Briefkasten, dass den Inhaber als Abonnent dieses Blattes ausweist. Vermutlich ist der Austräger Marathonläufer, aber auf jeden Fall ist er topfit.

Wenn nur die elende Kletterei nicht wäre . . .

Aber auch die Buchwaldstaffel ist irgendwann Geschichte, und gerade als der Grantler ächzend fragt, ob nun eine Höhe erreicht sei, bei der man an ein Sauerstoffgerät denken sollte, öffnet sich der Blick auf die Stadt, auf Bad Cannstatt und das Neckartal. Der Körper bebt, aber die Seele schwebt. Ein Traum. Der Rest ist ein schweigsamer Abstieg durch Kleingartenanlagen und endet irgendwann nach geschätzt 100 000 Stufen im Schweinemuseum beziehungsweise in der Wirtschaft dazu. Und das Fazit: Stuttgart hat Staffeln an Stellen, wo andere Städte nicht mal Stellen haben. Und man kann dabei einsame Ecken oder stille Pfade entdecken, die man in einer Großstadt nicht vermuten würde. Wenn nur die elende Kletterei nicht wäre.

Die Gesichtsfarbe des schwäbischen Stadtwanderers ist am Ende wieder bei einem dezenten Trollinger-Rot. Allerdings ordert er dann doch lieber ein Weizenbier. Nach der Anstrengung braucht es dringend Elektrolyte, sagt er.