Werden die großen Konzerne die Normen und Standards für KI selbst festlegen? Die DIN-Gruppe glaubt nicht daran.

Stuttgart - Das Thema Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Denn die Innovation, kurz KI genannt, ist der Hoffnungsträger schlechthin für das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahrzehnt. Trotzdem herrscht nicht nur unter Laien große Verwirrung darüber, worum es bei KI eigentlich geht, erzählt Christoph Winterhalter, Vorstandschef der deutschen Normungsorganisation DIN. Sogar auf der Hannover-Messe Anfang April musste er feststellen, dass es an einem gemeinsamen Verständnis fehlt. Die Vorstellungen der Menschen kreisen um Science-Fiction-Kreationen wie den Großcomputer HAL aus dem Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, der die Besatzung des Raumschiffs umbringt, weil er abgeschaltet werden soll. Im anderen Extrem geht es um harmlose, aber wirtschaftlich nützliche Anwendungen wie eine schlaue Software, die nahezu perfekt in der Lage ist, bei der Qualitätskontrolle in der Fabrik fehlerhafte Teile am Montageband auszusortieren.

 

Auch wenn humanoide Roboter, die womöglich die Menschheit versklaven wollen, die Fantasie beherrschen, so spielt in der Praxis das maschinelle Lernen von Computern die dominierende Rolle. Gefüttert mit riesigen Datenmengen, können die Maschinen die Informationen auswerten und die Erkenntnisse auf eine neue Aufgabe anwenden – in der Bildauswertung, bei der Prüfung der Kreditwürdigkeit, bei der Auswahl von Jobbewerbern und in der medizinischen Diagnostik. Für den Wissenschaftsphilosophen Max Tegmark geht es da ganz profan um Klassifizierungsfragen und ausgeklügelte Statistik. Die große Herausforderung liegt für ihn darin, aus anfälligen und angreifbaren Computern zuverlässige KI-Systeme zu machen.

Auf die Datenbasis kommt es an

Dass es ohne Definitionen, Standards und Normen in der technisch geprägten Welt der Wirtschaft nicht geht, gehört sozusagen zur DNA der DIN-Gruppe; DIN steht für Deutsches Institut für Normung. Die Gruppe sorgt auf einer freiwilligen Basis dafür, dass die Industrie einen Konsens findet. Der Einsatz der KI verlangt jedoch auch Antworten auf ethische Fragen, die um ein zentrales Thema kreisen: Welche Entscheidungen darf die Maschine treffen? Zum Klassiker in dieser Debatte ist bereits das Beispiel eines autonom fahrenden Autos avanciert, das vor dem Dilemma steht, in einer Verkehrssituation in Kauf nehmen zu müssen, dass entweder eine alte Frau oder ein Kind zu Tode kommt.

Winterhalters Abgrenzung ist klar: „Es ist nicht die Aufgabe der Normung, darüber zu entscheiden, was ethisch ist“, sagt der DIN-Chef. Das müssen nach Ansicht des Diplom-Informatikers Gesellschaft und Politik entscheiden. „Wir können allerdings“, so ergänzt der frühere ABB-Manager, „dafür sorgen, dass technische Standards die Umsetzung ethischer Werte unterstützen.“ Ein Beispiel dafür ist eine ausgewogene Datenbasis, die verhindert, dass das System den einen Menschen besser erkennt als den anderen. Würden die Informationen überwiegend von weißen Männern mittleren Alters stammen, dann hätte das System Schwierigkeiten, junge, farbige Frauen zu erkennen. Ein Beispiel: Amazon hat vor Jahren ein Programm zur Bewertung von Jobbewerbern getestet. Da die Datenbasis vor allem aus Männern bestand, wurden Frauen benachteiligt; als das bekannt wurde, stoppte Amazon das Programm. Winterhalter: „Ethik ist ja ein großes Wort. Letztlich geht es darum, Fairness und Neutralität in der Messung sicherzustellen.“

Ohne offene Systeme bleiben die Fabriken verschlossen

Gegenwärtig ist die KI-Welt noch unreguliert und insbesondere in Europa geht die Angst um, dass sich die großen, global operierenden Digitalkonzerne ihre eigenen Regeln schaffen, an denen sich der Rest der Welt zu orientieren hat. Winterhalter und Tarek Besold, Obmann des DIN-Arbeitsausschusses KI, glauben aber nicht, dass es so weit kommt. „Die IT-Riesen versuchen ihre Markt- und Machtstellung solange wie möglich auszunutzen und ihre konzerneigenen Systeme zu verkaufen“, macht sich Winterhalter mit Blick auf den noch dominierenden Konsumbereich – Stichwort Smartphone – zunächst einmal keine Illusionen. Aber: „Spätestens wenn sie jedoch mit ihrer Technologie in die Fabriken oder auf die Straßen möchten, müssen ihre Systeme offen und kompatibel mit anderen sein“, sagt der DIN-Chef. Besold sieht es genauso: „Immer wenn die Welt eines Konzerns verlassen wird, dann geht es nur mit Normung. Autonomes Fahren ist ein Beispiel hierfür. Die KI-Systeme werden darauf angewiesen sein, dass gewisse Straßenumgebungen weltweit gleich sind. In dem Moment kommt Normung ins Spiel.“ Dass da womöglich nur die Hoffnung der Vater des Gedankens sein könnte, bestreitet Besold: „Ich gehe davon aus, dass die Konzerne sich darauf einstellen, reguliert zu werden.“

Es geht gar nicht darum, KI zu fördern

Deshalb beteiligen sich diese Konzerne aus seiner Sicht an der Normung, um Einfluss auf die Vorgaben nehmen zu können. Microsoft, so sagt er, sei einer der Haupttreiber der Standardisierung im Software- und Digitalbereich. „Auch Google ist sehr aktiv, ebenso die großen chinesischen Firmen“, sagt der KI-Experte, den das Berliner Start-up Neurocat in den KI-Ausschuss entsandt hat. Weiteres Beispiel: „Das zweite Plenartreffen auf globaler Ebene zum Thema KI und Normung hat in Sunnyvale/Kalifornien stattgefunden und ist von Google organisiert worden.“

Die Zielrichtung der Deutschen ist klar. „Wir haben nun einmal kein deutsches Amazon oder Google“, sagt Winterhalter. Primär gehe es aus deutscher Sicht auch gar nicht darum, KI zu fördern. „Wir wollen unsere Mittelständler durch die Anwendung von KI in die Lage versetzen, noch wettbewerbsfähiger zu werden“, sagt er. Deshalb will DIN den deutschen Mittelständlern, die insbesondere den Maschinenbau prägen, Zugang zur Digitalwelt verschaffen – durch offene Schnittstellen, definiert mit Hilfe von Normen und Standards. Aus Winterhalters Sicht liegt es im ureigenen Interesse der deutschen Industrie, Einfluss auf die Normung und den Normungsprozess zu nehmen. „Wenn wir den Rahmen nicht setzen, dann tun das andere – und dann müssen wir uns damit abfinden, dass deren Regeln gelten. Das kann nicht in unserem Sinn sein“, sagt er.

Besold ergänzt, dass eine Norm keineswegs hinter verschlossenen Türen „ausgekartelt“ werde. „Normung ist ein sehr offener Prozess und konsensgetrieben“, sagt er. „Jeder ist eingeladen, mitzumachen, sich einzubringen.“ Ziel sei es, alle wichtigen Mitspieler an einen Tisch zu bringen – von den „Big Five“ der IT-Industrie bis zum Mittelstand und kleinen Start-ups wie Neurocat. Winterhalter: „Unser Appell lautet daher auch ganz klar: Macht mit, wartet nicht auf die Politik. Dazu brauchen wir neue Mitstreiter: Digital Natives, kreative Informatiker und Mathematiker, Experten, die Big Data beherrschen.“

„Macht mit, wartet nicht auf die Politik!“