Exklusiv Niemand gibt mehr für die Forschung aus als Baden-Württemberg. Aber der Nachbar Bayern wächst schneller. Die fehlende Dynamik bedroht die Topposition des Landes.
Stuttgart - Die Unternehmensberatung McKinsey macht dem Südwesten Hoffnung. „Wir glauben, dass Baden-Württemberg mit der richtigen Ausrichtung wieder auf einen Wachstumspfad von zwei bis drei Prozent pro Jahr zurückkehren kann und damit im europäischen Spitzenfeld bleibt“, schreiben die Berater in ihrem Gutachten „Baden-Württemberg 2020“, das der Stuttgarter Zeitung vorliegt und demnächst veröffentlicht werden soll. McKinsey hatte für die Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Stefan Mappus im Juli 2010 bereits das Gutachten „Technologien, Tüftler und Talente“ erstellt. In eigener Regie haben die Berater jetzt die Datenbasis aktualisiert und damit die Folgen der einschneidenden Finanzkrise nach der Lehman-Pleite berücksichtigt.
Diese Krise mit ihrem Einbruch 2008/09 hat Deutschland insgesamt besser als andere Länder verkraftet. Auch Baden-Württemberg steht nach wie vor hervorragend da. So ist der Südwesten mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 36 000 Euro pro Einwohner das wirtschaftlich drittstärkste deutsche Flächenland und liegt zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Eine starke Industrie, die für eine hohe Exportquote sorgt, schafft mit einer Arbeitslosenquote von lediglich vier Prozent annähernd Vollbeschäftigung.
Nicht in absoluten Zahlen, aber verglichen mit anderen Standorten ist Baden-Württemberg in den letzten Jahren jedoch zurückgefallen. So haben gemessen am BIP pro Kopf Hessen und Bayern den Südwesten überholt; erst im Jahr 1990 Hessen, 1994 dann Bayern. Anfang der achtziger Jahre lag Baden-Württemberg in Deutschland noch auf Platz eins. Aber in den Jahren 2000 bis 2012 ist das Land im Durchschnitt nur jeweils um 1,2 Prozent gewachsen.
Europaweit fällt die Bilanz nicht besser aus. Nicht nur das Bundesland Bayern, auch Staaten vergleichbarer Wirtschaftskraft wie Österreich, Finnland und Schweden sind seit 2000 stärker gewachsen als Baden-Württemberg, stellt McKinsey fest. So hat etwa Schweden von 2000 bis 2012 jedes Jahr um einen Prozentpunkt mehr zugelegt als der Südwesten. „Baden-Württemberg ruht sich auf seinen Stärken aus und fällt im europäischen Vergleich zunehmend zurück“, kritisiert Martin Lösch, Chef von McKinsey in Stuttgart. Das Wachstum werde vor allem durch ein sinkendes Arbeitsvolumen gebremst, sagt er. So hatte Bayern einen stärkeren Zustrom an Arbeitskräften; zudem arbeiten die Frauen in Bayern eher als die Geschlechtsgenossinnen im Südwesten in Vollzeit.
In die eigene Zukunft wurde zwischen Odenwald und Bodensee nur noch gebremst investiert, obwohl sich das Land stets seiner Ausgaben für Forschung und Entwicklung brüstet, die mit einem Anteil von 4,1 Prozent am BIP konkurrenzlos hoch sind. Zum Vergleich: die zweitplatzierten Bayern kommen (wie Hessen) nur auf 2,4 Prozent, wachsen aber ebenso wie Schweden deutlich stärker als Baden-Württemberg. Mit einem Verhältnis der Bruttoanlageinvestitionen zum BIP von 18,0 Prozent (Investitionsquote) erwies sich das Land zwischen 2000 und 2012 als investitionsmüde; noch nicht einmal der Bundesschnitt wurde erreicht. Spitzenreiter waren in Europa Österreich und die Schweiz, gefolgt von Bayern (20,8 Prozent).
Die wesentliche Voraussetzung für die Rückkehr zu Wachstumsraten von zwei bis drei Prozent ist aus Sicht von McKinsey, dass das Land alte Stärken zurückgewinnt. „Dafür muss Baden-Württemberg wieder ein von Innovation und Unternehmertum geprägtes Land werden“, schreiben die Berater. McKinsey rät der Landesregierung, die Rahmenbedingungen zu verbessern, zum Beispiel die Infrastruktur auszubauen und den drohenden Fachkräftemangel zu bekämpfen (siehe nebenstehende Meldung).
Der Südwesten hat seit Langem eine hervorragend ausgebaute Forschungslandschaft mit vielen Hochschulen, Fraunhofer- und Max-Planck-Instituten sowie Instituten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Bundesweit bekannt wurde das aber erst in den achtziger Jahren durch den damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU), der den Begriff Technologietransfer, die Übertragung von neuem Wissen aus den Hochschulen in die wirtschaftliche Anwendung, popularisierte.
Die Unternehmensberater schlagen nun vor, diese Infrastruktur zur Förderung von Start-ups und Innovationen stärker zu nutzen; die beiden größeren Gründerzentren KIT in Karlsruhe und an der Universität Stuttgart sollten zu Gründerzentren mit nationaler oder internationaler Reputation ausgebaut werden, vergleichbar mit dem Gründungszentrum Aachen oder UnternehmerTUM in München. Auch da war der Südwesten zu Späths Zeiten schon einmal weiter. Baden-Württemberg galt geradezu als das Land der Technologie- und Gründerzentren und stand in den neunziger Jahren bei Hightech-Gründungen mit weitem Abstand an der Spitze im Vergleich der Bundesländer. Auf dem ersten Platz bei diesen industrienahen Neugründungen liege das Land noch immer, stellt das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in einer Analyse nüchtern fest, „die Intensitäten haben sich gegenüber der 1990er Dekade allerdings fast halbiert.“
Aus Sicht von McKinsey droht Baden-Württemberg sich zu verzetteln. Danach findet der Slogan „Wir können alles (außer Hochdeutsch)“ seine Entsprechung in der Vielfalt der Forschungs- und Wirtschaftslandschaft. Für Ausgeglichenheit und Stabilität sei das gut, sagt Lösch. „Allerdings verhindert es die Anziehung von neuen Unternehmen und Talenten, weil nicht mehr klar ist, wofür Baden-Württemberg steht.“ Zu viele Schwerpunkte, sogenannte Cluster (im Land gibt es gut 130 Cluster und Clusterinitiativen), verhindern die Konzentration auf Wachstumsfelder. Solch eine Strategie befürworten die Berater auch deshalb, weil sich der Standort so besser vermarkten kann.
Die Pflege der Infrastruktur gilt mittlerweile als die klassische Form der Wirtschaftspolitik eines Bundeslandes. Die Unterstützung einzelner Branchen oder gar Unternehmen ist nach den EU-Regeln kaum mehr möglich – und für die Länder auch nicht finanzierbar. Den Ausbau der Infrastruktur hält kaum jemand für überflüssig, auch McKinsey nicht. Auf Länderseite beschränken vielfach finanzielle Restriktionen und Proteste der Bürger den Ehrgeiz der Planer. McKinsey empfiehlt einen umfassenden Infrastruktur-Entwicklungsplan mit klaren Schwerpunkten. Zu den Bestandteilen gehört der Ausbau der Breitband-Infrastruktur, so dass bis 2017 alle Haushalte mit bis zu 50 Mbit ins Internet gehen können. Kosten: eine Milliarde Euro verteilt über vier Jahre. Die Verbesserung der öffentlichen Verkehrsanbindung von Industriezentren wie Ulm, Heilbronn und Tuttlingen an den Stuttgarter Flughafen könnte bis zu 200 Millionen Euro kosten. McKinsey weist zudem darauf hin, dass Verzögerungen bei Großprojekten die Volkswirtschaft jedes Jahr Millionen kosten. Lösch: „Wir schätzen, dass pro Jahr verlängerter Bauzeit die Kosten eines Projekts um zwei Prozent der Gesamtsumme steigen.“ Bei den drei Großprojekten Ausbau der Rheinstrecke, A-8-Ausbau und Stuttgart 21 wären das 260 Millionen Euro pro Jahr Verzögerung.
Der Wirtschaft werden die Arbeitnehmer ausgehen – diese Entwicklung ist für McKinsey klar absehbar. Die Empfehlung lautet deshalb, verstärkt Frauen in den Beruf zu holen, durch verbesserte Angebote in der Kinderbetreuung – was Investitionen zwischen 500 und 750 Millionen Euro für den Ausbau von Kitas und Ganztagesgrundschulen erfordern würde; jährliche Zusatzkosten: 0,7 bis 1,0 Milliarden Euro. Auch in der Bildung sieht McKinsey dringenden Handlungsbedarf. Eine bessere Berufsvorbereitung in Haupt-, Real- und Sonderschulen sowie die Förderung von Migranten und Migrantenkindern würde zu Zusatzkosten von 250 bis 350 Millionen Euro pro Jahr führen, schätzt McKinsey.
Allenthalben wird Regierungen geraten, in der Förderpolitik die Branchen zu stärken, die schon gut dastehen. Das tut auch McKinsey. Dass die Traditionsbranchen Automobil- und Maschinenbau zu den empfohlenen Schwerpunkten gehören, liegt nahe. Hinzu kommt die Dienstleistungsbranche IT, die sich bereits tief in Fahrzeug- und Maschinenbau eingegraben hat. Als vierten Leuchtturm für den Südwesten macht McKinsey einen Mix von Branchen rund um das Thema Gesundheit aus: Pharma, Biotech, Medizintechnik.