Die Elektromobilität ist für etablierte Hersteller in der Branche eine Bedrohung. Ein McKinsey-Gutachten zeigt auf, dass die Entwicklung aber auch neue Wachstumschancen bietet.

Stuttgart - Kaum eine Branche steht in den nächsten Jahren vor einer größeren Herausforderung als die Kraftfahrzeugindustrie. Durch den Umstieg auf die neuen Antriebstechnologien Hybrid und Elektromotor (batterie- oder wasserstoffbetrieben) werden nach Schätzung der Unternehmensberatung McKinsey 25 bis 30 Prozent der Wertschöpfung neu verteilt. Denn so hoch ist der Anteil des sogenannten Antriebsstrangs (Motor, Getriebe und Achsen). Die Karten werden neu gemischt, erlauben Akteuren ohne Autotradition den Markteintritt, zum Beispiel asiatischen Großkonzernen mit Batteriekompetenz und Neulingen wie dem kalifornischen Anbieter Tesla.

 

„Insbesondere das Neckartal, das von den Motorzulieferern stark geprägt ist, dürfte von dem kommenden Strukturwandel massiv betroffen sein“, schreibt McKinsey in seinem Standortgutachten Baden-Württemberg 2020. Martin Lösch, Chef des Beratungsunternehmens in Stuttgart, ergänzt: „Auf ein solches Szenario ist Baden-Württemberg nicht vorbereitet. Was den Wegfall von Industrien ohne Ersatz für eine Region langfristig bedeutet, kann man in einigen Regionen von Nordrhein-Westfalen sehen.“

Kooperationen senken die Kosten und das Risiko

Bedroht sind durch diese Entwicklung ein bis zwei Prozent der Erwerbstätigen in Baden-Württemberg und 1,5 bis 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Beratungsgesellschaft glaubt dennoch, dass Daimler, Bosch & Co. die Herausforderungen bewältigen werden und im Zeitraum bis 2025 eine zusätzliche Wertschöpfung von drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr schaffen können. Das ist freilich gemessen an der Wertschöpfung der Branche von 22 Milliarden Euro (2010) wenig. Um mögliche Verluste auszugleichen oder zu minimieren, bieten sich den Herstellern und Zulieferern Kooperationen in der Entwicklung neuer Antriebstechnologien (zum Beispiel Batterie- und Steuerungstechnik) an. Beispiele hierfür sind Daimler, Evonik und Tesla sowie Continental und SK Innovation. Entscheidend für Baden-Württemberg ist es nach Ansicht von McKinsey, dass es gelingt, in der Elektromobilität schnell Standards für die neu entstehenden Schnittstellen zu schaffen: Ladeinfrastruktur, Batterieaustausch und Wasserstofftankstellen.

Die Digitalisierung der Autos – von der Internetanbindung bis hin zum mittelfristig möglichen autonomen Fahren – schreitet voran und bietet damit ebenfalls Wachstumspotenzial. Deshalb liegt es für McKinsey nahe, dass Hersteller und Zulieferer eigene Kompetenzen für Hard- und Software erwerben. Durch computergesteuertes Fahren könnten bis 2020 zwischen fünf und zwanzig Prozent der Fahrten autonom zurückgelegt werden, schätzen die Berater. Die eingesparte Fahrtzeit könnten Unternehmen versuchen, zu Geld zu machen, zum Beispiel durch Entertainment-Dienstleistungen.

Braucht das Land eine Ansiedlungsagentur wie sie Singapur hat?

Baden-Württemberg ist mit den Herstellern Daimler, Porsche und Audi (Neckarsulm) ein Standort für die Fertigung von Premiumautos. Diese Hersteller haben besonders große Mühe, künftige Abgasgrenzwerte einzuhalten, und müssen deshalb viel investieren – was aus Sicht von McKinsey Innovationen in anderen Fahrzeugbereichen bremst. Dies ist ein Problem, das die Kleinwagenbauer mit ihren geringeren CO2-Werten nicht haben. Für Baden-Württemberg ist aus der Sicht von McKinsey-Mann Lösch der Bau von Kleinwagen aus Kostengründen keine Option. Aber er sieht die Alternative, sich noch stärker als Topstandort für Premiumfahrzeuge zu positionieren. Lösch: „Es gibt nicht europäische Hersteller, die überlegen, wo sie in Europa ihre High-End-Autos bauen. Wenn wir eine hocheffektive Ansiedlungsagentur wie die in Singapur hätten, könnten wir Neuansiedlungen solcher Firmen in Baden-Württemberg erreichen.“

Der Umbruch der globalen Autoindustrie zeigt sich in einer Verlagerung des Wachstums nach Osten. Die Hersteller in Frankreich, Spanien und Italien haben sich weitgehend auf Westeuropa konzentriert. Diese Region ist aus Sicht der Berater wegen der Eurokrise immer noch nicht wieder auf dem alten Niveau angelangt und hat auch mittelfristig keine Aussicht auf Wachstumsraten oberhalb von zwei Prozent.

Die Schwellenländer verlangen lokale Wertschöpfung

Das Wachstum werde zum großen Teil aus Asien und Osteuropa kommen, lautet die Prognose. Dort steht bis 2020 ein jährliches Plus von fünf Prozent in Aussicht. Entsprechend müssen die Produkte in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sowie unter Berücksichtigung der Infrastruktur an die Anforderungen der Wachstumsmärkte angepasst werden. Eine mögliche Lösung ist aus Sicht der Berater, Forschung und Entwicklung vor Ort zu betreiben. Diese Strategie, so heißt es, werde zum Beispiel vom Elektro- und Elektronikkonzern Bosch mit 14 000 Angestellten im Bereich Forschung und Entwicklung in Asien bereits konsequent verfolgt. Da in vielen Schwellenländern ein gewisser Anteil lokaler Wertschöpfung in den verkauften Produkten verlangt wird, müssten sich auch mittelgroße Zulieferer international aufstellen, heißt es in dem Gutachten.