Wiesn und Wasen: auf den größten legalen Drogentreffs der Welt wird hemmungslos gefeiert. Das lässt gesamtgesellschaftlich einigermaßen tief blicken, meint unser Autor Mirko Weber.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Vor sieben Jahren definierte der damalige Google-Manager Eric Schmidt das Potenzial der Firma mit einem Satz, den man sich unbedingt merken musste: „Wir wissen, wo du bist, wir wissen, wo du warst, und wir wissen mehr oder weniger, was du gerade denkst.“ Das klang so überlegen wie beängstigend und hat sich als Prophetie bewahrheitet. Wobei die Floskel „mehr oder weniger“ heute fast zu streichen wäre. Google weiß, was gedacht wird, zumindest so lange, wie wir uns als Konsumenten betätigen. Was uns sonst in der Kopf kommt – vorausgesetzt, wir haben es nicht gegoogelt – entzieht sich im Kern der Kenntnis des weltumspannenden Konzerns. Noch.

 

Die Kalifornier und artverwandte Marken nutzen für ihre Zusammenhänge eine Neigung des Menschen aus, die in der sich durchdigitalisierenden Welt des 21. Jahrhunderts fast epidemische Ausmaße angenommen hat: ein kollektiver Hang zur Optimierung von Lebensumständen und Individualität. Reisen werden da nach vergleichender Netzüberprüfung gar nicht mehr angetreten, wenn das Wetter nicht gerade genial passt. Produkte kommen nur in Spitzenausfertigung, mithin als Markenbeste nach Online-Check in Frage. Und Partner, in der Regel alle gut gecoacht, müssen heute mindestens über ein sehr ordentliches Matching-Profil verfügen. Selbst Spaziergänge laufen oft nach dem Diktat der Uhr ab, die später vorrechnen kann, wie viel man unterwegs produktiv verbrannt hat.

Gespenster in der Kulisse

Bei so viel angewandter Methodik, das eigene Leben besser zu machen, kommt es nachgerade einem kleinen Wunder gleich, dass es noch so unvollkommene Events wie die Wiesn und den Wasen gibt. In München oktoberfestelt es bereits eine knappe Woche vor sich hin, das Cannstatter Volksfest eröffnet heute, ebenfalls für Millionen von Besuchern. Was passiert da eigentlich, hier und da? Vielleicht kann man es so erklären: In improvisierten Holzhäusern, deren Folklore-Imitatcharakter nicht zu übersehen ist, und vor einer Kulisse, in der sogar noch Gespenster rumoren, produziert eine Gesellschaft, die es besser weiß, einen sozialen Schulterschluss, den es nicht gibt. Mehr oder minder angetrunken wird einer Gemütlichkeit zugeprostet, die sich hier nur im relativen Rausch einstellen kann. Alle Menschen werden Brüder. Oder zumindest Trinkkumpane.

Sehen Sie hier unser Video vom ersten Fassanstich zur Waseneröffnung:

Interessant ist, dass mit einem Schlag die üblich geltenden Regeln hinsichtlich der Selbstoptimierung nicht mehr greifen, ja, dass mit Fleiß und Alkoholkonsum gerade auf das Gegenteil hingearbeitet wird: Auf Wiesn und Wasen, den ziemlich größten legalen Drogentreffs der Welt, gilt es meistens, möglichst schnell einen Fetzenrausch, also relative individuelle Disfunktionalität herbeizuführen. Wer ewig wie ein Rädchen laufen muss, macht sich locker, lässt los und ist nicht wählerisch, wie sonst so oft. Sowohl die Getränke wie die Göckele kommen bekanntermaßen aus der Massenproduktion und nicht aus der Craft-Beer-Brauerei oder der antiobiotikafreien Zucht. Die klassische Produktionskette wiederum sichert den Exporterfolg der Feste. Nach Stuttgarter und Münchner Manier feiern schließlich bereits ganze Großstädte in China, den USA oder, man denke, Hunderttausende in Hannover.

Frei von Zwängen

Gleichwohl hat der zwiespältige Charakter der Massenfeier auch etwas Faszinierendes. Trotz hundertprozentiger Durchkommerzialisierung, von der Pseudotracht bis hin zur Scheinvolkstümlichkeit, gibt es viele Einzelne, die sich hier wenigstens für ein paar Stunden (seltsam) frei fühlen; frei von Zwängen, Leistungsdruck und Optimierungswahnsinn. Und manchmal werden sentimentale Sehnsuchtsreste lebendig: dass es sonst auch anders ginge, womöglich, wenn man insgesamt widerständiger wäre und nicht durchnormiert.

Wem es im Übrigen nicht gut geht nach einschlägigem Feiern, kann sich, so noch in seinem Besitz, vom Mobiltelefon immerhin sagen lassen, wo er ist und wo die nächste Apotheke sei.