Pflanzen, die im großen Stil unter Laborbedingungen in Kellern und Küchen mitten in der Stadt gezüchtet werden – Zukunftsmusik? Die Grundlagen dafür hat das Stuttgarter Start-up Farmee jetzt geschaffen.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Klein-klein ist ihr Ding nicht. Die jungen Männer des Start-ups Farmee wollen hoch hinaus. Nichts Geringeres als eine Revolution wollen sie anstoßen, so steht es auf ihrer Webseite geschrieben.

 

Florian Haßler, Jens Schmelzle und Kai Blisch stehen vor einem hohen Regal, das gespenstisch in einem lilafarbenen Licht erstrahlt. An den Unterseiten der Regalbretter sind rote und blaue LEDs angebracht. Auf den Regalen stehen ein paar zarte Pflänzchen: Kopfsalat, Spinat und Feldsalat. Sie wachsen nicht in Erde, sondern auf Steinwolle. Plötzlich ertönt ein leises Gurgeln. „Das ist die Wasserpumpe, sie springt alle zwei Stunden an“, sagt Jens Schmelzle. Der 35-Jährige zeigt auf eine Flasche, die unten im Regal steht. Daneben steht eine Flasche. „Das sind die Nährstoffe“, sagt Schmelzle.

Echte Pflanzen, die ohne Erde, ohne natürliches Licht und ohne menschliche Pflege wachsen

Und dann wird der Drang zu groß: Man will, ja man muss sie anfassen, die Pflanzen - um zu prüfen, ob sie echt sind. Das weiche Blatt kitzelt die Haut der Finger. Und auch im Hirn ist ein neuer Kitzel da: Echte Pflanzen, die ohne Erde, ohne natürliches Licht und ohne menschliche Pflege wachsen, das ist ebenso seltsam wie - ja: revolutionär.

Seltsam, denn mit Pflanzen verbindet man das Wühlen in der Erde, Sonne auf der Haut oder Regen im Gesicht und viel frische Luft. „Das ist eine sehr romantische und verklärte Vorstellung, die man fast nur noch im heimischen Garten antrifft“, sagt Florian Haßler (34). Vielmehr bedeute konventionelle Landwirtschaft meist, dass die Pflanzen in Substraten unter kilometerlangen Plastikplanen oder im Gewächshaus wachsen, automatisch gewässert werden – und oft Pestizide zum Einsatz kommen. Dann werden die Pflanzen von weit weg zum Verbraucher herangekarrt.

„Die Demokratisierung der Landwirtschaft“

Revolutionär ist die neue Form des Pflanzenanbaus, die die Jungs von Farmee derzeit ausarbeiten, wegen all der Möglichkeiten, die sie bietet. Denn obschon die konventionelle Landwirtschaft wie oben beschrieben heute schon ähnlich arbeitet, ermöglicht das Farmee-Konzept einen wesentlichen weiteren Schritt: Die landwirtschaftlichen Nutzflächen können in die Stadt geholt werden, neue Räume erschlossen werden.

Und diese werden dringend benötigt: „Im Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung auf zehn Milliarden Menschen anwachsen – und die meisten davon werden in Städten leben“, sagt Kai Blisch (36). All diese Menschen brauchen Nahrungsmittel – die bisher fast alle außerhalb der Städte produziert werden – auf Agrarflächen, die begrenzt sind. „Wir sind überzeugt davon, dass wir, um neue Flächen zu schaffen, in die Vertikale gehen müssen“, sagt Schmelzle. Zudem müssten die Menschen die Lebensmittel künftig sehr viel näher dort produzieren, wo sie konsumiert werden – und die Produktion sollte nicht nur großen Kapitalgesellschaften überlassen werden. „Wir wollen die Menschen dazu befähigen, ihr eigenes Gemüse anzubauen“, sagt Blisch. „Das nennen wir die Demokratisierung der Landwirtschaft.“

Keiner der fünf Gründer hat Agrarwissenschaft oder Biologie studiert

Etwa auf dem eigenen Balkon. Dort hat Farmee im Mai des vergangenen Jahres seinen Anfang genommen. Zwei der fünf Farmee-Gründer, zu denen auch Steffen Abel (32) und Christian Schilling (33) gehören, hatten auf ihrem eigenen Balkon solch Prototypen entwickelt, also ein Regalsystem mit Software – „wobei das Regal nicht unser Produkt ist, sondern nur die Software“.

„Wir haben gemerkt, dass die globale Ernährung ein Markt ist, in dem wir unheimlich viel Potenzial sehen“, sagt Haßler. Viele arbeiten in diesem Bereich an unterschiedlichen Ideen – in der Region etwa hat Green You aus Böblingen ein Gewächshaus im Wohnzimmerformat entwickelt. „Zudem wollen wir Verantwortung übernehmen“, sagt Haßler. Das Start-up Farmee war geboren. Keiner der fünf Gründer hat Agrarwissenschaft oder Biologie studiert, alle sind Absolventen der Hochschule der Medien. „Das ermöglicht uns einen offenen Blick – zudem holen wir alle Infos von Experten“, so Blisch. Etwa von Bastian Winkler von Geco Gardens.

Die Software steuert alles

Einen offenen Blick – aber keinesfalls einen blauäugigen. Denn alle haben bereits vor fünf bis zehn Jahren jeweils ein anderes Unternehmen gegründet. „Auch bei Farmee gehen wir schon sehr unternehmerisch dran“, sagt Blisch. Momentan stecke man natürlich noch in der Aufbauphase – und Geld in das Unternehmen rein. Das Ziel sei, durch den Verkauf der Software ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen. Diese Software steuert alles: Von der Bewässerung über die richtige Beleuchtung in unterschiedlichen Wachstumsphasen bis zur Nährstoffzugabe. Doch freilich soll sie ständig optimiert werden, so soll sie etwa einmal Krankheiten erkennen können. Als potenzielle Kunden sehen die jungen Männer vor allem Kleinbauern weltweit.

Dass Farmee die Software öffentlich Nutzern zur Verfügung stellen möchte, das ist auch das Besondere an dem noch jungen Unternehmen. Denn ähnliche Technologien gibt es bereits. Eine hat etwa das Berliner Start-up Infarm entwickelt, das mit seinem System aber nur eigene Farmen betreibt – etwa in dem Berliner Restaurant Good Bank. Hier wächst der Salat in beleuchten Glaskästen direkt hinterm Tresen. In Hamburg betreibt Mark Korzilius, einst Mitgründer der Restaurantkette Vapiano, zusammen mit einer Partnerin die Firma Farmers Cut und züchtet unter künstlichen Bedingungen und im großen Stil Gemüse in einer Hamburger Markthalle heran.

„Der Salat schmeckt sehr, sehr lecker“

„Wir suchen in Stuttgart auch noch ein Restaurant oder eine Firma, wo wir unsere Software austesten und die Menschen mit der Idee erreichen können“, sagt Haßler. Denn ihnen ist klar: Vor ihnen liegt noch viel Überzeugungsarbeit. Sie selbst indes wissen es schon besser: „Der Salat schmeckt sehr, sehr lecker“, sagt Schmelzle, und sein Blick wandert am Regal hinauf, höher und höher.

Eine erste Version der Software steht von Freitag an zum kostenlosen Download im Netz. Am 1. März um 19 Uhr veranstaltet Farmee das zweite Urban Farming Meetup im Wizemann Space.