Die Start-up-Kultur hat in den vergangenen Jahren davon gelebt, dicht gepackt Menschen zu immer bunteren Großevents zusammenzubringen. Das ist erstmal vorbei. Und nun?

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Bald wäre es wieder so weit. Im finstersten finnischen Winter, in einer dampfenden, schlecht belüfteten Halle, mit Menschen, dicht an dicht. Doch im Jahr 2020 denkt man nur noch: ein Virenparadies. „Slush“, also Matsch, heißt das legendäre und bis vor dem Corona-Jahr stetig populärerer gewordene Start-up-Event in Helsinki, wo es nicht um Präsentationen geht, sondern um das, was in der Pandemie inzwischen undenkbar geworden ist: um den engen, die Kreativität fördernden Kontakt von Menschen.

 

Denn wenn man Start-up-Kultur lediglich mit Technologie assoziiert, dann vergisst man ihren noch viel wesentlicheren Kern. Sie hat nicht nur Spitzenmanager dazu gebracht, Krawatten zu lockern und ihre Mitarbeiterschaft zu duzen. Es ist vor allen Dingen ein neuer Weg, unternehmerischen Mut und Kreativität freizusetzen. Da kann man über manches Ritual lächeln, etwa die theatralischen „Pitches“, die teilweise ultrakurzen Unternehmenspräsentationen, die zu jedem Start-up-Event dazugehören. Entscheidend aber ist der Ansatz, die Barrieren und Hierarchien zwischen Menschen einzureißen, der absolute Gegenpol zum Abstandsgebot.

Eine zentrale Erkenntnis, die inzwischen teilweise auch schon in etablierte Unternehmen eingesickert ist, heißt nämlich: Wer Kreativität hervorbringen will, muss Menschen zusammenführen, am besten auch einmal spontan und ungeplant, ohne gleich vorherbestimmte Agenda. Das Wort „ungeplant“ ist der Schlüssel: Niemand muss sich dafür irgendwo in einer Telekonferenz einwählen. Es reicht, unterwegs zu sein, offen für Begegnungen. Und das eingangs erwähnte Event „Slush“ war deshalb so erfolgreich, weil man hier die Menschen-Dichte in einer dunklen und schlecht belüfteten Halle maximal ausreizte. Wenn es je Partystimmung für das Coronavirus geben würde, dann diese!

Wer Kreativität will, muss Menschen zusammenführen

Und das ist genau der Punkt, wo die in der Pandemie unverzichtbar gewordenen, digitalen Werkzeuge ihre größte Schwäche haben. Sie können Menschen von überall auf der Welt zusammenführen, sie öffnen bei spezifisch definierten Themen geografisch viel weitere Räume, sie sind für Sitzungen etablierter Teams absolut tauglich. Doch was sie nicht können, sind die Zufallsbegegnungen, die es nur gibt, wenn Menschen planlos in Kontakt miteinander kommen. Einmal erzählte ein Start-up auf der „Slush“, dass man mit seinem wichtigsten Investor bei einem Zufallsgespräch in der Herrentoilette in Kontakt gekommen sei. Ganz ohne Terminkalender werden auch solche Treffen ineffizient. Aber ihr Potenzial liegt in Zufallsbegegnungen.

Das Überraschende geht verloren

Doch die Ingredienz des Überraschenden ist genau das, was nun verloren zu gehen droht. Alle Start-up-Formate experimentieren notgedrungen mit digitalen Eventplattformen. Das funktioniert unter den sogenannten Digital Natives, also den mit Smartphone und Social Media aufgewachsenen Gründern reibungslos. Doch der Spaßfaktor geht flöten, der für die zunehmend zu einer Mischung aus Wirtschaft und Kultur gewordenen, globalen Treffpunkte typisch geworden ist. Spaß darf nicht nur, Spaß muss sein. Die wirklich kreativen, diagonalen Ideen entstehen aus dem Unvorhersehbaren, aus der Begegnung unterschiedlichster Bereiche. Und da auch die Kultur selbst zu einem der größten Corona-Opfer gehört, ist der Rückschlag umso größer.

Das betrifft nicht nur Großevents, sondern macht auch kleinere Treffen schwieriger. Falls doch reale Begegnungen stattfinden, bremsen Abstandsgebot und Hygieneregeln die Spontaneität. Die Gefahr ist nun, dass Start-up-Kreativität auf die abstrakten Methoden reduziert wird, die inzwischen auch in Großkonzernen in Tagesseminaren gelehrt werden. Denn die Erfahrung ist, dass neue Ideen mehr brauchen als das Spiel mit Lego-Steinen im Rahmen des sogenannten Design Thinking. Es müssen oft Menschen von außen kommen, um einen Laden aufzumischen.

Das Abstandsgebot verhindert Begegnungen

Und genau dafür bringen die coronabedingten Einschränkungen den Todesstoß. Was übrig bleibt, sind flexible Kommunikation und Effizienz. Wie in vielen anderen Bereichen, in denen die digitalen Erfahrungen während der Pandemie eine Zäsur bedeuten, ist nun die Schlüsselfrage, wie die langfristigen Folgen sein werden. Wird es einen ausgeprägten Hunger geben, die verlorenen Erfahrungen nachzuholen? Oder wird die Erfahrung mit ganz neuen, oft hybriden Veranstaltungsformaten, die ein größeres, geografisch weiter zerstreutes Publikum problemlos und kosteneffizient zusammenführen, der Todesstoß für die boomenden Innovationsfestivals sein? Die Frage kann heute niemand beantworten, zumal es auch 2021 unwahrscheinlich ist, dass die Events wieder so stattfinden. Es ist gut möglich, dass von der so bunt gewordenen Start-up-Kultur vor allem deren digitale Effizienz übrig bleibt. Dass sie Vorbild ist bei der Organisation von digitalen Happenings. Doch damit geht ein entscheidender Baustein dieser Kultur verloren: die Einsicht, dass es auf die unmittelbare Begegnung von Menschen ankommt.