Was für ein Glück, dass jeder Zuschauer seine Pause bei Sebastian Hartmanns Inszenierung „Staub“ selbst wählen darf. So kann man das Theater schon früh verlassen. Unser Theaterkritiker hat Verständnis für jeden, der sich dieses Stück nicht in voller Länge antut.

Stuttgart - Das Gute an diesem Theaterabend ist: Man kann sich seine Pause im Stuttgarter Schauspielhaus selber wählen. Viele Premierengäste haben am Sonntag dieses Angebot genutzt und sind aus dem Saal gegangen, aber nicht mehr zurückgekehrt. Sebastian Hartmanns „Staub“ ist eine Zumutung, der man sich nicht aussetzen muss.

 

Man war gewarnt, o ja! Die Inszenierung hatte vor einem halben Jahr schon einmal Premiere, im Mai bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – und jetzt, da der „Staub“ ins koproduzierende Stuttgarter Schauspielhaus geweht ist, lassen sich alle Befürchtungen und Beobachtungen aus dem Pott bestätigen.

Zwanzig Minuten Gefiddel

Bevor im weit aufgerissenen Bühnenraum auch nur ein einziges Wort fällt, wird zunächst mal vor dem Vorhang getanzt: Engländer amüsieren sich in Irland. Ausgiebig. Zwanzig Minuten lang – eine Auge und Ohr aufreibende Folklore zu irischem Endlos-Gefiddel, das über zwei, drei Akkorde nicht hinauskommt, dafür aber mit spitzen Juhus, wedelnden Armen und hopsenden Beinen von Schauspielern garniert wird, die gar nicht mehr aufhören wollen. Oder dürfen.

So verstreicht die Zeit. Nervtötend. Zwanzig Minuten lang. Vorbehaltlos stimmen wir deshalb dem irischen Arbeiter zu, der dieses morgendliche Ritual der Gäste aus London sehr befremdlich findet: „Schlechtes Zeichen, wenn einem Leute begegnen, die sich so aufführn und dabei nüchtern sind“, sagt er in der Stückvorlage von Sean O’Casey. In Stuttgart ist dieser Satz gestrichen, tausend andere sind es auch.

Qualvoll wie nie

Am Ende, nach viereinhalb qualvollen Stunden, wie wir sie qualvoller im Schauspielhaus seit Jahren nicht erlebt haben, fällt der Vorhang. In roten Fetzen, geschreddert zu Hunderten von Stoffknäueln, rieselt er auf die Bühne – und geschreddert, vernichtet und zerlegt, verkaspert, verhampelt und vergeigt ist auch die famose Komödie des irischen Dramatikers, die eigentlich „Purpurstaub“ heißt, nach einer Intervention des Suhrkamp-Verlags nun aber nicht so heißen darf.

„Nur Reste von Stück und Übersetzung“ seien in der Inszenierung von Sebastian Hartmann übrig geblieben, so die Begründung. Stimmt haargenau. Deshalb versteht man jetzt auch nicht, wovon Sean O’Casey in seiner 1943 in England uraufgeführten, 1963 just im Stuttgarter Schauspielhaus auf Deutsch erstaufgeführten Komödie handelt: von der neuerlichen Invasion auf der grünen Insel, jetzt nicht durch den britischen Feudaladel, sondern den britischen Geldadel. Und Sean O’Casey, in Dublin geborener Christ und Kommunist, setzt sich zur Wehr. Bei der Wahl der Waffen ist er freilich nicht zimperlich: Seine angriffslustige Komödie neigt zu Situationskomik, Slapstick, Schwank.

Ein Kindskopf lebt sich aus

Schwank! Der Regisseur scheint diese Genrebeschreibung als Freibrief für Unfug zu verstehen. Also spielt Hartmann jede Idee, die ihm assoziativ durch den erwachsenen Kindskopf rauscht, bis an die Schmerzgrenze aus – ein Konzept, das den sechs Darstellern immerhin die Möglichkeit bietet, ihre Qualitäten als absurde Stand-up-Comedians vorzuführen. Holger Stockhaus glänzt in dieser Disziplin, kann im Alleingang den „Staub“ aber nicht vor der redlich verdienten Katastrophe retten.

Da dieser Marathon der überdehnten Soli keine Struktur hat, ist es jedem Zuschauer übrigens freigestellt, sich nach Belieben eine Pause zu nehmen. Viele Premierengäste machen Gebrauch von diesem großherzigen Angebot und gehen raus aus dem Saal, doch nur wenige kommen zurück. „Schön, dass ihr’s ausgehalten habt“, sagen die nach dem Schlussbeifall durch stark gelichtete Reihen wandernden Schauspieler. Höflich geht die Welt zugrunde – und das Theater auch.