Am Jahresende schließt die Stauffenbergkaserne in Sigmaringen. Nur Oberstleutnant Stefan Trossen tut dort noch Dienst. Ein Rundgang zwischen alten Panzerwaschstraßen und neuen Flüchtlingsheimen.

Sigmaringen - Oberstleutnant Stefan Trossen geht täglich viele Kilometer über ein leeres Militärgelände. In den Fahrzeughallen steht kein Fahrzeug mehr, in der Panzerwaschstraße wird kein Panzer mehr gewaschen, in den Soldatenunterkünften hat schon seit Monaten kein Soldat mehr geschlafen. Auch auf dem Tennisplatz spielt längst keiner mehr Tennis, der dazugehörige Club ist gerade aus dem Vereinsregister gestrichen worden.

 

Seit der letzte Kommandierende General im Juni 2014 feierlich in Sigmaringen verabschiedet wurde, ist die Graf-Stauffenberg-Kaserne in Auflösung begriffen. Einst gab es hier 2500 Soldaten und 500 Zivilangestellte, Hunderte von Militärfahrzeugen, einen Standortschieß- und Übungsplatz. Dann kam die Bundeswehrreform und mit ihr das Ende der 10. Panzerdivision in Sigmaringen. Am 31. Dezember 2015, fast 60 Jahre nach ihrer Gründung, schließt die Stauffenbergkaserne endgültig ihre Pforten. Es ist der Tag, an dem Stefan Trossen die Flagge mit dem Bundesadler für immer einziehen wird, „notfalls auch allein“, wie er mit sanftem Lächeln anmerkt.

Seit eineinhalb Jahren ist Oberstleutnant Trossen, 58, Standortältester in Sigmaringen. Er ist der höchste Repräsentant an einer Stelle, wo es eigentlich fast nichts mehr zu repräsentieren gibt. Der diensthabende Offizier, der nach dem Rechten sieht und den Überblick behält auf einem 60 Hektar großen Militärgelände, das nun ganz allmählich zivilisiert wird.

Alles kommt anders als geplant

Die ersten Nachmieter sind schon da: eine Metallbaufirma, die ein bisschen Platz für ihre Produktion braucht, ein Bauer, der seine Strohballen für den Winter untergestellt hat. Alles Weitere muss sich finden, wenn das Gelände im nächsten Jahr offiziell umgewandelt und vermarktet wird. Konversion nennt man das mit einem Fachbegriff, doch im Grunde ist in Sigmaringen alles ganz anders gekommen, als es ursprünglich geplant war.

„Na, wie geht’s heute?“ Stefan Trossen steht vor Halle 107 und redet mit zwei Rotkreuzmitarbeiterinnen über ihre Probleme mit dem Betonstaub. Ein Mann in Uniform und Tarnfarbe, mit rotem Barett und Schulterklappen, vor zwei Frauen in kunterbunter Alltagsgarderobe. Inzwischen ist in Halle 107 die Kleiderkammer untergebracht, nicht etwa die für Soldaten, sondern jene für die 2500 Flüchtlinge, die in den Kasernengebäuden angekommen sind.

„Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle“, so lautet der offizielle Behördenbegriff, doch die meisten sagen nur kurz Bea. Seit eine Bea in Sigmaringen eröffnet wurde, ist das Kasernengelände zweigeteilt und die Konversionsfläche auf rund ein Drittel ihres ursprünglichen Umfangs geschrumpft. Oberstleutnant Stefan Trossen ist die Ruhe selbst. Nimmt mit stoischer Gelassenheit die Dinge hin, die er sowieso nicht ändern kann. Dass die Kaserne aufgelöst wird, war eine Überraschung: „Wo die doch so viel investiert haben.“ Dass an ihrer Stelle nun das nur 18 Kilometer entfernte Stetten am Kalten Markt ausgebaut wird, eine andere: „So ist es halt.“ Immerhin haben es die nicht weit, die jetzt dorthin versetzt wurden, und die Stadt muss auch keine massiven Arbeitsplatzverluste beklagen.

Der ideale Mann für den Übergang

Für Stefan Trossen selbst hätte es viel schlechter laufen können. Seit 25 Jahren ist er in Sigmaringen Soldat. Er hat dort längst Wurzeln geschlagen, auch wenn man bis heute deutlich hört, dass er von der Mosel stammt. Vier Kinder hat er, die alle in Sigmaringen aufgewachsen sind. Er leitet die Handballabteilung im Sportverein und legt nun kurz vor dem Ruhestand wirklich keinen gesteigerten Wert darauf, noch einmal irgendwo ganz anders hinzumüssen.

So kam der Job als Standortältester genau richtig. Der ideale Mann für den Übergang, mit der souveränen Ruhe der letzten Dienstjahre, die ihm eine Aufgabe beschert haben, in die ihm keiner mehr hineinredet. Trossen kann es gut mit den Leuten, und er kann organisieren. Was es zu erleben gab, hat er längst erlebt, in mehreren Auslandseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan.

Die neue Wendung mit den Flüchtlingen bringt ihn kein bisschen durcheinander. Es sind genauso viele Asylbewerber wie früher Soldaten auf dem Gelände. 2500 Menschen, die man in der Kaserne erstaunlich wenig wahrnimmt. „Es verteilt sich“, sagt Trossen und wundert sich ein wenig, dass manche Einheimische Angst bekommen, wenn die Flüchtlinge in kleinen Gruppen zu viert oder fünft in die Stadt gehen. „Das haben wir in Afghanistan auch so gemacht, das ist doch normal, damit man sich helfen kann, wenn etwas passiert.“

Die Verlängerung geht bis 31. Dezember

Eigentlich ist Trossen sogar glücklich über die Ankunft der Flüchtlinge in seiner Kaserne. Ursprünglich sollte seine Dienstzeit am 31. März 2016 enden, doch jetzt hat er eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2016 bekommen. Man braucht einen Ansprechpartner auf dem Areal, einen, der alles und jeden kennt. Da gibt es im Grunde nur Oberstleutnant Trossen. Abgesandt von seinem Kommando, der Verbindungsoffizier für alle Fälle und alle Menschen, die irgendwie auf dem Gelände unterwegs sind.

Auch nach Feierabend zieht es ihn manchmal in die Kaserne. Dann trainiert er in der Bundeswehrturnhalle mit seinen Handballspielern aus Sigmaringen. Tagsüber treiben dort jetzt Flüchtlinge Sport. „Ideal“, sagt Trossen, denn nun sei auch gewährleistet, dass die Halle nach dem Abzug der Soldaten weiter beheizt werde.

In der letzten Zeit hatte es der Offizier hauptsächlich mit Zäunen zu tun. Jede Woche ein anderer Grenzverlauf. Hier die Bea, da die Bundeswehr. Hier die Flüchtlinge, da das Konversionsgelände. Es sind keine unüberwindlichen Hindernisse, nur Grenzmarkierungen, damit man weiß, was wohin gehört. „Ja, was ist denn das nun wieder?“, entfährt es Trossen. Jemand hat um das falsche Gebäude einen Zaun herumgezogen. Der Oberstleutnant greift zum Handy, ist kurz ernst und lächelt dann wieder. „Ein Missverständnis“, sagt er, „halb so wild.“ Es wird sich alles, wie immer, regeln.

Die schönen alten Zeiten

Zeit, noch einmal im Offizierskasino vorbeizuschauen. Das ehemalige Offiziersheim liegt außerhalb des Kasernengeländes. Ein flacher Betonbau, von dessen Vorplatz man die Silhouette von Schloss Sigmaringen sehen kann. Welch schöne Feste im Offiziersheim gefeiert wurden! Wie gut das Essen in der Kantine war! Wenn man mit Stefan Trossen durch die leeren Räume geht, ist das ein Spaziergang voller Erinnerungen. Hier hat er mit seiner Familie Kommunion gefeiert, dort mit Kollegen ein Bier getrunken, an jenen Tischen Freunde bewirtet. Jetzt stehen auf den Tischen Computerbildschirme. Ein Internetcafé für die Flüchtlinge, die wichtige Verbindung in die Heimat. Stück für Stück verliert das Kasernengelände sein militärisches Gesicht. Bald wird auch das Stauffenberg-Denkmal am Eingang abgebaut und nach Dresden gebracht, wo es eine neue Graf-Stauffenberg-Kaserne gibt.

Auch seine alten Diensträume hat Stefan Trossen verloren. „Die Bea“, sagt er nur kurz. Und wieder ein Zaun, dessen Verlauf neu ausgerichtet werden musste. Sein aktuelles Quartier ist im sogenannten Facharzt-Zentrum zu finden. Das Facharzt-Zentrum ist das einzige Stück Bundeswehr, das vorerst in Sigmaringen bleibt. Vor 2019 wird es mit dem Umzug nach Stetten nichts, und so muss Stefan Trossen sein letztes Dienstjahr umgeben von hochspezialisierten Medizinern verbringen. Es gibt wahrhaftig Schlimmeres.

Im kommenden Jahr darf er noch mal einen großen Aktionstag in Stetten mitorganisieren – und dann, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag, am 31. Dezember endgültig in den Ruhestand gehen. Fast 40 Jahre ist er dann bei der Bundeswehr gewesen, weit mehr als die Hälfte davon in Sigmaringen. Nach ihm wird es dort keinen Standortältesten mehr geben. Nur noch einen Standort. Für Flüchtlinge, Firmengründer, Handballer.