Ist das eine Demo? Oder ein Open-Air? Dies fragten sich Auswärtige einst, wenn sie den überfüllten Kleinen Schlossplatzes sahen. Es war Pauls Boutique. Vor fast 25 Jahren ging’s los. Die Bar ließ Stuttgart rocken. Was machen die Wirte heute?

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Er ist einer der emotionalsten Orte von Stuttgart. Seit Kriegsende hat sich der Kleine Schlossplatz so oft von Grund auf verändert wie kein anderer Platz im Kessel. Und stets ist heftig über den Wandel gestritten worden. Mit dem Kronprinzenpalais aus Monarchiezeiten fing es an, das an dieser Stelle nach den Bombenangriffen als Ruine stehen geblieben war. Man hätten es wieder aufbauen können wie das Neue Schloss auf der anderen Seite des Schlossplatzes. 1956 hatten sich Stadt und Land aber auf die autogerechte Tunnellösung geeinigt. OB Arnulf Klett wollte den Grundriss der City neu ordnen. Bahnhofserbauer Paul Bonatz zählte zu den Verlierern. Vergeblich hatte er dafür plädiert, „den wichtigen Teil des Stadtgedächtnisses zu erhalten“.

 

Der Kleine Schlossplatz geriet zum Pflegefall

Erst 1966 begannen die Bauarbeiten für den Planiedurchbruch und für den Kleinen Schlossplatz. Auf den Betondeckel über Straßen und Gleisen kamen Läden für Poster, Halsketten und Lederröcke. Bei der Eröffnung im Dezember 1968 brach – flower-power-bewegt – ein Jubel der Fachwelt aus. Doch die Mini-City, die jung und trendig sein wollte, geriet rasch zum Pflegefall. Der Kleine Schlossplatz stand für Drogen, Schmutz und Tristesse. Eine neue Situation entstand, als die Königstraße 1978 zur Fußgängerzone wurde. Die Fahrspuren mit ihren beiden schwarzen Eingangslöchern blieb unter dem Betondeckel verwaist, der damit seinen Sinn verloren hatte. Denn der Verkehr war um einen Stock tiefergelegt.

Das Phänomen der Nacht sollte sieben Jahre währen

Zur Leichtathletik-WM 1993 kam Professor Walter Belz, einem der drei Architekten des umstrittenen Betonplateaus, die Idee, eine 30 Meter breite Freitreppe von der Königstraße hoch zum Kleinen Schlossplatz zu bauen. Dies war ein Glücksfall für die Stadt. Dazu fand die Subkultur eine Nische. Wo gekündigte Läden leer standen, wo viele einen „Schandfleck“ sahen, setzte der drohende Abriss Kreativität und Fantasie frei. 1991 eröffnete die erste Kneipe 551. Den größten Erfolg hatte die Bar Pauls Boutique, die 1995 im ehemaligen Kartenhäusle gestartet ist und Tausende anlockte. Ein Phänomen der Nacht, das knapp sieben Jahre währen sollte.

Angefangen hat alles damit, dass der spätere Wirt Klaus Morlock, heute ist er CEO einer Investment-AG in Zürich, mit einem Freund durch die Stadt lief auf der Suche nach einer Location. Auf dem Kleinen Schlossplatz legten sie eine Pause ein, auf der Treppe beim Il Mulino. Gegenüber war gerade das Kartenhäusle ausgezogen,

Schon bei der Eröffnung wurde Pauls Boutique überrannt

Was hat den Erfolg der größten Caipirnha-Ladestation außerhalb von Lateinamerika ausgemacht? „Ich empfand das Waschbetonareal als gruslig“, schreibt User Bernd Bitzer bei Facebook, „vielleicht war der Kontrast zur bunten Mode und lebendigen Menschen deshalb so interessant.“

Renate Morlock, die mit ihrem Mann Klaus Morlock zu den Gründern von Pauls Boutique zählt, erinnert sich in der Club-Challenge in der Coronakrise, wie groß der Ansturm schon in der ersten Nacht im Juli 1995 – im Sommer könnte man also den 25. Geburtstag feiern – war: „Weil wir, so naiv wie wir waren, von den Gästen überrannt wurden und mangels Wechselgeld und kalten Getränken nicht weiter wussten, haben wir nach zwei Stunden alles umsonst ausgegeben.“

Eine Facebook-Gruppe verbindet die Stammgäste von einst

In Pauls Boutique gab’s keinen Chef, der Paul hieß. Den Namen verdankt die Bar einer amerikanischen Hip-Hop-Band. „Eine LP von den Beasty Boys hieß Pauls Boutique“, erklärt Kaj Morlock, der 2001 dazugestoßen ist. Der Bruder von Klaus Morlock ist der einzige Macher der Bar, der heute noch in Stuttgart lebt. „Toshi ist irgendwo in der Wildnis der USA“, sagt Renate Morlock, die damalige Geschäftsführerin, „uns hat es von Stuttgart via Romanshorn nach Zürich verschlagen.“ Verbunden sind die einstigen Wirte und die einstigen Stammgäste über eine Facebook-Gruppe, die noch immer aktiv ist, auch wenn 2002 mit dem Abriss des Kleinen Schlosses ein gastronomisches Wunders plattgemacht wurde.

Pauls Boutique ist einer von vielen Beweisen dafür, dass sich Stuttgart seinem provinziellen Image, das damals in der Republik weit verbreitet war, mit Power und Kreativität widersetzt hat. Wenn sich auswärtige Gäste wunderten, was auf dem Kleinen Schlossplatz abging, sagte man ihnen: „So ist Stuttgart halt, Stuttgart rockt!“

Hier trafen sich täglich die Skater

Im Facebook-Forum des Geschichtsprojekts Stuttgart-Album wird es vielen beim Anblick der Pauls-Boutique-Fotos warm ums Herz. „Wir Stuttgarter Skater haben uns dort täglich getroffen“, schreibt Dragan Cuvalo „eine schöne, unvergessliche Zeit.“ Alex Heda Dragan erwidert: „Stimmt, ihr seid da immer auf die Fresse gefallen beim Treppen-Runterschanzen.“ Claudia Nicole schildert eindrucksvoll, was damals los war: „Einmal dort den Barkeeper angemeckert, dass der Caipi zu schwach sei. Danach nen echt starken bekommen, meinen Geldbeutel verloren, mich mit zwei Typen angelegt und den Rest weiß ich nicht mehr. War trotzdem eine tolle Zeit!“

Renate Morlock, einst Geschäftsführerin von Pauls Boutique, erinnert sich, wie alles immer noch größer geworden ist: „Gegen Ende hatten wir den ganzen Kleinen Schlossplatz übernommen. Pussy Galore war das Ex-Mövenpick, und der Posterladen war die Mokkahöhle. Pauls Musique gab’s auch noch.“

Der Abriss hat am 11. März 2002 begonnen

Im verflixten siebten Jahr war Schluss. Im März 2002 musste Pauls Boutique für immer schließen, um den Weg freizumachen für die Abrissbagger. Während die Stadt das Ende des Kapitels Kleiner Schlossplatz und den Beginn der Neugestaltung für das Kunstmuseum feiern wollte, hatten die Künstler und Gastronomen als Abschiedsparty an eine Art Beerdigungsveranstaltung gedacht. Man konnte sich nicht einigen. Der damalige OB Wolfgang Schuster hat am 11. März 2002 persönlich den ersten „Baggerbiss“ gesteuert, um sich als Held des neuen Museums feiern zu lassen.

Der Wunsch von Architekt Walter Belz, die aus Fertigteilen bestehende Freitreppe behutsam abzutragen, um Teile davon womöglich andernorts zu verwenden, hat sich nicht erfüllt. Dies sei zu teuer, hieß es im Rathaus. Wie schade! Teile der Freitreppe und des Kartenhäusles, also auch von Pauls Boutique, hätten ganz dringend ins Stuttgart-Museum im Stadtpalais gehört! Denn hier ist Stuttgart in den 1990ern leichter, sympathischer und großstädtischer geworden.