Stefan Kretzschmar war als Spieler die schillerndste Figur im deutschen Handball. Seit Anfang 2020 führt er als Sportvorstand die Füchse Berlin. Vor dem Spiel beim TVB Stuttgart spricht er über Titelchancen, Trainerentlassungen und die Boulevardisierung der Sportart.

Sport: Jürgen Frey (jüf)

Das Meisterschaftsrennen in der Handball-Bundesliga ist spannend wie selten – und die Füchse Berlin sind mittendrin. Vor dem Spiel beim TVB Stuttgart am Mittwoch (19.05 Uhr) in der Porsche-Arena äußert sich Füchse-Sportvorstand Stefan Kretzschmar zur Lage an der Tabellenspitze und zu Themen abseits des Feldes. Das sagt Stefan Kretzschmar über. . .

 

. . . die Trainerentlassung in Flensburg

„Die Entscheidung kam überraschend, weil Maik Machulla lange Zeit sehr erfolgreich bei der SG gearbeitet hat. Aber ich mische mich da nicht ein, das ist Sache der Verantwortlichen der SG Flensburg-Handewitt, das habe ich nicht zu bewerten.“

. . . Parallelen zum überhitzten Fußballgeschäft

„Den Eindruck habe ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass im Handball immer mehr Professionalität und Weitsicht Einzug halten und auch die Qualität im Management im Vergleich zu vor zehn Jahren immer besser wird. Aber klar: Der Druck der Öffentlichkeit wird auch im Handball immer größer. Das sieht man an den Trainerentlassungen, nicht nur in Flensburg, sondern zuvor auch in Stuttgart, Leipzig oder Wetzlar. Vor zehn Jahren hätte man bei Negativserien eher die Nerven behalten.“

. . . den TV-Rechte-Wechsel

„Durch den Wechsel zu Dyn-Media und die damit verbundene Partnerschaft mit Springer und der ‚Bild‘-Zeitung bekommen unser Sport und die Geschichten drum herum in den Boulevardmedien viel mehr Raum. Die Berichterstattung wird boulevardesker, reißerischer, die Schlagzeilen werden heftiger – aber das ist gut so, denn davon profitieren wir. Die Schattenseiten des medialen Interesses gehören dazu, damit müssen wir lernen umzugehen. Wie überall im Leben können auch wir uns nicht nur die Rosinen rauspicken. Ich sehe es als Riesenchance, weil wir seit Jahrzehnten versuchen, dem Handball in der Öffentlichkeit den Stellenwert zu geben, den er verdient hat.“

. . . ein Füchse-Meister-Tattoo

(Lacht) „Das habe ich noch nicht im Kopf. Aber natürlich kämpfen wir um die Meisterschaft. Wenn man in dieser Phase der Saison so aussichtsreich im Rennen liegt, wäre alles andere ja gar nicht glaubwürdig. Daher ist das Tattoo nicht wichtig, sondern das Ziel.“

. . . die Titelchancen

„Erst einmal tut dieses megaspannende Titelrennen unserer Sportart sehr gut. Eine Prognose ist praktisch unmöglich. Der THW Kiel ist in der Pole-Position aufgrund der besseren Tordifferenz, aber in den acht Spieltagen kann in dieser verrückten Liga noch viel passieren. Es sieht nach einem Dreikampf zwischen Kiel, uns und dem SC Magdeburg aus, der sich in Lauerstellung befindet und als Titelverteidiger und mit seiner DNA nur darauf wartet, zuzuschlagen.“

„TVB ist ein gefährlicher Gegner“

. . . das Spiel in Stuttgart

„Der TVB ist ein gefährlicher Gegner, auf den wir uns akribisch vorbereiten werden. Wir sind in Minden schon ausgerutscht, der THW hat daheim gegen Leipzig verloren, es gibt so viele Beispiele, warum kein einziges Spiel zu leicht angegangen werden darf.“

. . . das Final Four in der European League

„Vielleicht sind wir für dieses Endturnier am Pfingstwochenende in Flensburg von der Papierform her der Favorit. Aber was diese Rolle wert ist, zeigte das Final-Four-Turnier um den DHB-Pokal eindrucksvoll, als sich nicht Magdeburg oder Flensburg durchsetzten, sondern die Rhein-Neckar Löwen, die mit einem Negativlauf aus der Bundesliga nach Köln gekommen waren. Deshalb hat am 27./28. Mai Frisch Auf Göppingen genauso gute Chancen wie wir, denn was dieser Traditionsclub auf der internationalen Bühne leisten kann, hat er mehr als nur einmal bewiesen. Zumal Frisch Auf mit einem Titelgewinn alles, was in der Liga schieflief, korrigieren könnte. Darüber habe ich mich mit Trainer Markus Baur schon ausgetauscht.“

. . . Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning

„Was er mit seinem Enthusiasmus, seiner Emotionalität und seinem Sachverstand für den Handball leistet, ist unfassbar. Ich glaube, beim DHB wird er schon vermisst. Die Zusammenarbeit mit ihm ist top, weil er immer erreichbar und verlässlich ist und stets mit offenem Visier frei raus seine Meinung sagt. Für mich ist er der beste Manager – nicht nur im Handball, sondern im Sport insgesamt.“

. . . seine handballspielenden Kinder

„Ich bin glücklich, dass Lucie bei Bundesligist HSG Bensheim-Auerbach und Elvis in der B-Jugend des SC Magdeburg glücklich sind mit ihrem Sport und ihn mit Leidenschaft betreiben. Leider hatte ich während meiner aktiven Karriere viel zu wenig Zeit für sie, aber unser zum Glück hervorragendes Verhältnis hat darunter nicht gelitten.“

„EM-Halbfinale möglich“

. . . die Nationalmannschaft

„Punktuell halte ich es für möglich, dass die DHB-Auswahl mit der Euphorie und dem Heim-Publikum im Rücken bei der EM 2024 ins Halbfinale kommen kann. Was aber die individuelle Qualität betrifft, sind uns die Nationen in der aktuellen Weltspitze weit voraus – die Franzosen und vor allem die Dänen, die auch mit ihrer zweiten Mannschaft um Medaillen spielen würden, aber auch Schweden und Spanien sind uns voraus. Unsere drei Schlüsselspieler Juri Knorr, Johannes Golla und Julian Köster sind noch jung. Von daher halte ich den großen Wurf eher bei der Heim-WM 2027 für realistisch.“

Zur Person

Karriere
Stefan Kretzschmar wurde am 17. Februar 1973 in Leipzig geboren, aufgewachsen ist er in Berlin, wo er in der Kinder- und Jugendsportschule des SC Dynamo Berlin aktiv war. Als Aktiver spielte er für den SV Blau-Weiß Spandau (1991 bis 1993), den VfL Gummersbach (1993 bis 1996) und den SC Magdeburg (1996 bis 2007). Insgesamt absolvierte der Linksaußen 421 Bundesliga-Spiele (1694 Treffer). Mit dem SCM wurde er 2001 deutscher Meister und 2002 Champions-League-Sieger.

Privates
Kretzschmar ist liiert mit Doreen, das Paar lebt im Berliner Umland in einem Haus am See. Er hat zwei Kinder (Elvis Ernesto/15 und Marie Lucie/22). Sein Hobby ist Golf.