Während die Zahl jugendlicher Tatverdächtiger im Kreis Ludwigsburg steigt, übersehen wir oft, was dahinter steckt, kommentiert Emanuel Hege: Eine Generation, die in digitalen Reizfluten untergeht – und kaum Hilfe bekommt.
Innerhalb eines Jahres ist die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen im Landkreis um 20 Prozent gestiegen. Die Gewalt an Schulen bewegt sich auf rekordverdächtigem Niveau. Das Bild der grundlos aggressiven, Messer tragenden, zerstörerischen Horden junger Menschen führt dabei jedoch in die falsche Richtung. Wer nur auf die Symptome starrt, verkennt die Ursache.
Wir sollten auf die besorgniserregende Problematik mit einer anderen Brille schauen: Viele junge Menschen sind keine Täter, sondern Überforderte. Sie stehen unter einem Druck, den so noch keine andere Nachkriegsgeneration erlebt hat.
Überfülle an Möglichkeiten: Objektiv geht es der jungen Generation besser als ihren Vorgängern. Sie können jedes erdenkliche Hobby ausprobieren, jedes Interesse übers Internet stillen, aus unglaublich vielen Berufen wählen und so viele Lebensmodelle verfolgen wie noch nie. Doch genau diese unendliche Auswahl löst Ängste aus.
Derart viele Optionen erfordern klare Werte, Ziele und ein stabiles Selbstbild – was in der Jugend oft noch nicht ausgereift ist. Die Folge ist eine gefährliche Orientierungslosigkeit, die bei den einen Stress auslöst, bei anderen Essstörungen oder Depressionen.
In der Reizlawine: Hinzu kommt, dass Jugendliche im Dauerfeuer digitaler Reize leben. Sie nehmen durch Social Media, YouTube und Chats permanent neue Eindrücke auf – die meisten sind emotional zugespitzt, eine Parallelwelt auf Steroiden.
Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, so viele überreizte Konflikte, Gewalt, Krisen, Meinungen, Vergleiche, Aufrufe und Werbung emotional oder kognitiv zu verarbeiten. Andere Generationen hatten Pausen von Selbstdarstellung, Konkurrenz, Konflikten und Gruppenzwang – dieser Generation fehlen diese Verschnaufpausen.
Sichtbare Ungleichheit: Besonders für sozial benachteiligte Jugendliche hat das drastische Folgen. Wer ohnehin wenig hat, wird durch soziale Medien täglich mit dem Überfluss anderer konfrontiert. Unsere unfaire Gesellschaft wird rund um die Uhr spürbar.
Die Konfrontation mit verzerrten Lebensrealitäten, zu denen viele Jugendliche keinen Zugang haben, schmerzt. Besonders bei ärmeren Kindern entstehen Wut, Scham, Minderwertigkeitsgefühle und das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kriminalität und Gewalt vor allem deshalb zunimmt, weil es Kinder und Jugendliche immer schwerer haben, unbeschwert aufzuwachsen.
Die gute Nachricht: Im Landkreis leisten Sozialarbeiter bereits Großartiges. Es gibt Anlaufstellen und offene Ohren. Die schlechte Nachricht: Diese Hilfsangebote sind überlastet – und setzen meist erst an, wenn es schon zu spät ist. Prävention bleibt Nebensache.
Die Politik hat hier viel zu lange geschlafen. Wir müssen junge Menschen früher stärken – emotional, sozial, digital. Dazu braucht es endlich verbindliche Strukturen: mehr Therapieplätze, echte Vorsorge und ein Bildungssystem, das die Realität anerkennt.
In Finnland und anderen skandinavischen Ländern gehört Medienkompetenz längst zum Stundenplan, ebenso wie sozio-emotionales Lernen. In Deutschland gibt es dazu vor allem: Absichtserklärungen, Strategiepapiere und Stillstand.
Jugendliche dürfen mit ihren Problemen nicht weiter allein gelassen werden. Wenn die Politik wirklich gegen Gewalt und Kriminalität von Minderjährigen vorgehen will, muss sie endlich verstehen: Das Problem beginnt nicht mit den Taten – sondern weit davor.