Im Winterkorn-Diesel-Prozess geht es um die Vergangenheit. Das eigentliche Problem der deutschen Autoindustrie aber liegt in der Zukunft. Deshalb geht der Weckruf von VW viele an – in der Wirtschaft wie in der Politik, meint Matthias Schmidt.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Matthias Schmidt (mas)

Neun Jahre nach dem Auffliegen des Dieselskandals wird dem Ex-VW-Chef Martin Winterkorn der Prozess gemacht. Das Landgericht Braunschweig soll endlich ergründen, ob der für seine technische Detailverliebtheit berühmte Automanager in der ganzen Affäre wirklich so ahnungslos war, wie er vorgibt. Festzustellen, wo die Verantwortung hoch bezahlter Manager anfängt und wo sie endet, wäre ein wertvoller Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung – zumal der Skandal viele Milliarden Euro an Straf- und Vergleichszahlungen gekostet hat.

 

Aktuell stellt sich bei VW aber eine noch viel drängendere Frage: Bewältigt das Unternehmen auch die Gegenwart? Und daran anschließend: Wie viele Krisen kann die deutsche Autoindustrie noch wegstecken, ohne dass ihr die Zukunft wegbricht?

Weckruf auch für Beschäftigte bei Bosch, Mercedes und Porsche

Der Tabubruch von Wolfsburg verdeutlicht den Ernst der Lage. VW, der größte Industriekonzern Deutschlands, kündigt die bis 2029 vereinbarte Beschäftigungssicherung und erwägt erstmals, Werke in Deutschland zu schließen. Aus Sorge, in die Verlustzone zu rutschen, gehen der Konzernchef Oliver Blume und sein Markenvorstand Thomas Schäfer auf Radikalsparkurs.

Ex-VW-Chef Martin Winterkorn beim Prozessauftakt Foto: AFP/Ronny Hartmann

Dem SOS-Ruf folgt ein Beben, das weit in die Republik ausstrahlt – schließlich haben sich auch Firmen wie Bosch, Mercedes und Porsche auf Beschäftigungsgarantien verpflichtet. Dort ist der Ertrag zwar noch vergleichsweise auskömmlich, aber das Beispiel VW zeigt, wie wenig solche Papiere wert sein können, wenn sich die wirtschaftliche Großwetterlage dreht. Kein beruhigender Gedanke für die Beschäftigten.

Klar, VW hat seine speziellen Probleme. Der oft als unregierbar bezeichnete Konzern, in dem die IG Metall und das Land Niedersachsen per Gesetz machtvoll mitreden, tut sich mit Effizienz generell schwerer als die Konkurrenz. Zum Fanal für die Branche wird der Wolfsburger Notruf trotzdem. Denn Konzernchef Blume führt Gründe an, die auch die anderen Hersteller treffen – namentlich die neue Konkurrenz aus China sowie Standortnachteile in der Heimat.

Es hat sich vieles zusammengebraut. Auf dem Riesenmarkt China drängen lokale Hersteller die alten Platzhirsche aus Europa immer weiter zur Seite. Global sinkt in unsicheren Zeiten die Nachfrage, zuhause wird die Produktion gedrosselt, während die Kosten für Energie und Personal steigen. Gleichzeitig kommt die Elektromobilität nicht schnell genug in Fahrt. Das bringt nicht nur die Hersteller in Bedrängnis, sondern auch viele Zulieferer, die in die neue Technik investiert haben und jetzt vergeblich auf Aufträge warten.

Die Autoindustrie ist daran nicht unschuldig. Sie propagiert bisher auffällig verhalten die Vorteile der Elektroautos in Sachen Abgas, Lärm, Energieeffizienz und Klimawirkung. Denn die Verkäufe der nach wie vor margenstärkeren Verbrenner sollten nicht unnötig gebremst werden. Zudem fehlt es an bezahlbaren Kompaktstromern.

Die Politik spielt eine unrühmliche Rolle

Aber auch die Politik trägt unrühmlich dazu bei, den Zuspruch zur neuen Technik zu bremsen: Die Ampel kippte über Nacht die Förderung, die Opposition geriert sich als Retter des Verbrenners und des freien Marktes – ganz so, als stünden für den Klimaschutz bessere Alternativen bereit und als hätte einst der souveräne Kunde die Abgaskatalysatoren durchgesetzt und nicht der Gesetzgeber. Vernachlässigt von allen wurde dagegen der Ausbau von Stromnetz und Speichermöglichkeiten.

Noch ist offen, wie radikal in Wolfsburg am Ende wirklich gespart wird, die Verhandlungen beginnen erst. Aber alle, die jetzt von einem Weckruf für den Standort Deutschland reden, tun so oder so gut daran aufzuwachen.