Sten Nadolny, 75, war Gast auf der Esslinger Lesart. Sein Schreiben ist Understatement, seine Bücher navigieren sich durch Strömungen und Stürme, sein Humor ist ziemlich hintersinnig und leere Blätter müssen sich vor ihm in acht nehmen.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Sten Nadolny ist 1983 mit dem Roman „die Entdeckung der Langsamkeit“ auf einen Schlag weltberühmt geworden. In diesem Jahr hat er sich zum 75. Geburtstag ein neues Buch geschenkt: „Das Glück des Zauberers“. Beim Esslinger Literaturfestival Lesart hat er es im ausverkauften Schauspielhaus vorgestellt. In diesem Buch geht es auch um den Zauber des Schreibens.

 
Herr Nadolny, woher bekommt man den Mut, ein Buch zu schreiben?
Den schleppe ich schon seit Kindesbeinen mit mir herum, weil meine Eltern Schriftsteller waren, und ich dachte, nichts leichter als das. Ich habe ja mitverfolgt, wie am Mittagstisch dauernd über Stoffe gesprochen wurde und dachte, da musst Du ja bloß die Wörter haben und ein bisschen konstruieren und überlegen, was passiert, und schon hast Du’s geschrieben.
Zunächst wollten Sie Historiker werden?
Erst wollte ich in die Wirtschaft gehen und irgendwas Tolles werden. Das war mit 15 Jahren. Später bei der Bundeswehr habe ich mich entschlossen, später Geschichte zu studieren, und das habe ich dann auch gemacht und abgeschlossen. Und wurde Lehrer. Während des Studiums habe ich mich politisch nach links entwickelt. Auch habe ich eine Doktorarbeit geschrieben über Abrüstungsfragen.
Waren Sie friedensbewegt?
Als Leutnant der Reserve habe ich noch nachträglich verweigert, das hatte damals noch einen gewissen Seltenheitswert. Ich fasse keine Waffe an, könnte niemandem etwas zuleide tun. Und dann kam noch ein linker Gesichtspunkt dazu, der Ihnen vielleicht ulkig vorkommt: Ich wollte nicht auf die Genossen schießen. Das ist völliger Blödsinn gewesen, denn wenn ich ein richtiger Kommunist gewesen wäre, dann hätte ich die Bundeswehr unterwandern müssen.
Bei Ihrem Auftritt am Mittwoch beim Esslinger Literaturfestival zeigten Sie sich als schlitzohriger Gesprächspartner.
Das kann ich, seit mir viele Dinge Wurst geworden sind. Ich war in jüngeren Jahren perfektionistischer und ehrgeiziger und hatte immer etwas Sorge, dass ich vielleicht einen Fehler mache oder Defizite offenbare. Kurz und gut, ich habe nicht mehr das Gefühl, dass mir irgendetwas passieren kann auf einem Podium. Das Wichtigste ist, dass man sich nicht zu gut vorbereitet hat, damit es keine Formulierungen gibt, an die man sich dann erinnern muss.
Ihr erster großer Erfolg war „Die Entdeckung der Langsamkeit“, über den Polarforscher John Franklin. Würde das Buch nicht besser in das Jahr 2017 passen?
Es ist andersherum, wenn das Buch heute erscheinen würde, dann hätte es keine Chance. Die Langsamkeit war damals als Utopie gedacht, heute wirkt sie nur noch wie ein Idyll.
Wie veränderte der Durchbruch ihr Leben?
Natürlich enorm. Ich hatte nach meinem Lehrerdasein eine Filmkarriere eingeschlagen, die aber nicht sehr weit geführt hat. Immerhin war ich einmal dritter Produktionsleiter bei dem James-Bond-Film „Octopussy“. Die Karriere brach ich ab, als der übrigens langsam anlaufende Erfolg der Langsamkeit finanziell einschlug. Da konnte ich mir bis zu meinem nächsten Buch zehn Jahre Zeit lassen.
Zuviel Zeit ist manchmal gar nicht so gut.
Ich hatte Ideen. Der gute Mut, der entsteht ja dadurch, dass man was etwas vorhat und denkt, ja das möchte ich einmal machen. Es war wunderbar, Zeit zu haben zum Schreiben. Am nächsten Buch „Selim, oder die Gabe der Rede“ habe ich aber fast zu lange geschrieben. Man presst dann immer alles noch hinein. Die Gefahr ist, dass die Leser nichts damit anfangen können.
„Das Glück des Zauberers“ ist der Titel ihres neuen Buches. Müsste es nicht heißen, das Vermächtnis des Zauberers?
Diesen Titel hatte ich auch ausprobiert. Aber das Buch handelt nicht vom Vermächtnis, sondern es handelt von der Dankbarkeit, die der Zauberer Pahroc, die Hauptfigur des Romans, empfindet. Die Zauberei hat ihn ja in alle möglichen Schwierigkeiten gebracht und hat ihm nur manchmal geholfen. Das Glück des Zauberers ist es, etwas Besonderes zu können, und es mit Freude zu können. Da steckt schon viel von der Definition des Glücks überhaupt drin.
Talent ist eine Verpflichtung?
Genau. Andere haben nicht das Glück, ein besonderes Talent zu besitzen. Und wenn Du das hast, dann setz’ Dich gefälligst auf den Hosenboden und mach’ was draus, denn Du kannst dann anderen viel geben.
In Ihrem Buch erscheinen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts lapidar distanziert.
Beim Schreiben betreibe ich, so gut ich kann, Sparflamme, Understatement. Es gibt Leute, die würden auf manche Szenen enorm viele Briketts drauflegen, damit es auch ordentlich heiß wird. Aber das widerstrebt mir, ich möchte viel der Fantasie des Lesers überlassen.
Pahroc als Zauberer könnte alles her- und wieder wegzaubern. Wie sind Sie der Gefahr entgangen, beliebig zu werden?
Indem ich Regeln eingeführt habe, was Zauberer alles nicht können. Es gibt keinen Liebeszauber, sie können nicht durch Zauber töten. Wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wären wir in einem Supermanfilm – und es würde fad.
War es schwierig, die Perspektive des Alleinerzählers durchzuhalten?
Ich bin von Haus und von Natur aus ein Alleinerzähler. Ich kann mir selber stundenlang zuhören, also konnte ich mich auch hinter Pahroc verstecken.
„Das Glück des Zauberers“ ist ein Briefroman. Dabei denke ich an Hölderlin und Goethe. Wollten Sie einen Klassiker schreiben?
Nein, dieses Ziel sollte man sich niemals setzen, sonst fällt einem der Griffel aus der Hand. Es ging nicht um die Wiederaufnahme einer Tradition. Es schien mir das geeignete Mittel, um einen uralten Mann an seine Enkelin schreiben zu lassen.
Der liebe Gott kommt bei Ihnen nicht vor?
Nein, der wird umschrieben. Es gibt in der magischen Welt offensichtlich eine höchste Instanz. Wenn ein Zauberer sich umbringen will, indem er etwa einen Fischkessel in eine Pistole verwandelt, sorgt diese Instanz dafür, dass in dem Kessel plötzlich ein kochfertiger Zander liegt und eine Flasche Riesling daneben steht.
Denken Sie ans Publikum beim Schreiben?
Beim Schreiben nicht. Ich denke an meine Frau. Sie ist die Erste, die mir zuhören muss, wenn ich wieder drei Seiten geschrieben habe. Dann lese ich ihr die gnadenlos vor. Und sie ist auch meine erste Kritikerin – und sagt dann auch, auf Seite zwei, da wird es etwas fad.
Wann fesselt Sie ein Buch?
Bevor ich anfange zu schreiben. Das Schönste und der angenehmste Teil ist es, auf dem Balkon bei einer guten Zigarre und mit Blick auf die Bäume über ein Projekt nachzudenken, ohne sich mit Formulierungen und Grammatik abzuplagen. Meistens sind es mehrere Projekte gleichzeitig, irgendwann kristallisiert sich eines raus und packt mich. Dann setze ich mich hin und mache Pläne über Pläne, die dann alle natürlich nicht verwirklich werden.
Die Handlung biegt einem ja manchmal ab.
Es wird alle Planung zunichte, wenn man dann merkt, welche Richtung man tatsächlich eingeschlagen hat. Da weiß ich schon, dass ich den Schmarrn von vorgestern aufgeben muss.
Haben Sie eine Liebe zu Außenseitern?
Ja, natürlich. Ich bin der festen Überzeugung, dass man von Außenseitern Dinge lernen kann, die ich sonst nicht lernen kann. Sich mit einem Behinderten zu unterhalten, der die Welt ganz anders sieht, das öffnet ungeheuer die Augen. Literarisch ist es höchst ergiebig, einen Menschen anders sein zu lassen und die Welt durch dessen Augen zu betrachten. Das ist schon die Nähe zum Schelmenroman. Forest Gump, ein Lieblingsfilm von mir, der ist ganz einfach, aber sehr folgerichtig. Wie Forest Gump die Welt erlebt, das ist entzückend einfach und sehr wahr.
Haben Sie Angst vor dem leeren Blatt?
Ich finde ein leeres Blatt höchst attraktiv. Was kann man alles schreiben, von oben bis unten. Man kann mir nicht genug leere Blätter hinlegen, die werden schon voll.
Wie viele Romanfassungen machen Sie?
Nur eine. Ich schreib’ doch nicht eine Fassung zu Ende, um dann von vorne anzufangen. Nein, das korrigiert sich während der Arbeit natürlich.
Dann müssen Sie doch planen.
Eben nicht. Das ist wie ein Schiff, das eine Reise antritt. Sie müssen zunächst irgendein ein Navigationsziel angeben, damit Sie steuern können, dann kommen Strömungen, dann kommt Sturm, dann fällt der Motor aus, dann müssen Sie die Position neu bestimmen und einen neuen Kurs wählen.
Die Crew ist dann schon an Bord?
Die Figuren sind an Bord und melden sich und reden dazwischen.
Ich dachte bei dem Namen Pahroc an das französische „Phare“ für Leuchtturm.
Nein, ich hatte den Namen aus einer Geschichte des Schriftstellers Kurt Kusenberg und wollte ihn aber anders schreiben, googelte den Namen und fand heraus, dass es da einen Indianerstamm gibt. So erfand ich Pahrocs Geschichte.
Ein Denkmal für Kurt Kusenberg. Was ist das Tolle an ihm?
Kusenberg ist eine wunderbar zarte Kampfansage an den Fortschrittsglauben, den Rationalismus, die ganze Dämlichkeit dieser Welt. Diese ehrgeizige, zielorientierte Welt, in der man alles weiß, wo derjenige der Überlegene ist, der diesen Apparat am besten beherrscht. Kurt Kusenberg bringt das Paradoxe hinein und die Magie, die den Menschen ratlos macht und aushebelt - zu ihrem Besten. Eigentlich lehrt Kusenberg eine amüsierte Bescheidenheit dem Leben gegenüber. Für mich ein ganz großer Mann.

Das Gespräch führte Ulrich Stolte.