Nominiert für den Deutschen Buchpreis: Der im China des 19. Jahrhunderts spielende „Gott der Barbaren“ ist eine episch ausholende, tiefschürfende Parabel über den Umgang mit dem Anderen und koloniale Anmaßung.

Stuttgart - Stephan Thome ist bisher durch feinsinnige Romane über abgebrochene Lebensläufe in der hessischen Provinz aufgefallen. Jetzt steht er wieder einmal auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, aber „Gott der Barbaren“ ist ein Grenzgang ganz anderer Art: eine Reise ins China des 19. Jahrhunderts. Überraschend kommt der Themenwechsel freilich nicht. Thome ist Sinologe, er hat über interkulturelle Hermeneutik und die „Herausforderung des Fremden“ promoviert, lebt überwiegend in Taipeh und spricht fließend Mandarin.

 

Sein großer Chinaroman ist keine exotisch verspielte Chinoisierie im luftleeren Raum, sondern eine weit ausholende, tiefschürfende Parabel über unseren Umgang mit dem Anderen, eine Kritik kolonialer Überheblichkeit, eine Verbeugung vor der taoistisch-konfuzianisch-buddhistischen Weisheit des Ostens. Und nicht zuletzt: eine Studie über religiösen Fanatismus im christlichen Gewande.

China um 1860. Während Briten und Franzosen im zweiten Opiumkrieg die Öffnung des chinesischen Marktes für ihre Handelsflotten erzwingen, tobt im Süden der Taiping-Aufstand, der mit dreißig Millionen Toten blutigste Bürgerkrieg der Geschichte. Unter der Führung eines selbsternannten „Himmlischen Königs“, der sich, inspiriert von Missionaren, der „kleine Bruder Jesu“ nennt, erheben sich unterdrückte Völker wie die Hakka und Yao, Triaden, Landarbeiter und Taglöhner gegen die Qing-Dynastie. Die Rebellen schneiden sich die alten Zöpfe ab, proklamieren die Gleichberechtigung der Frau und die Abschaffung des Privateigentums. Aber ihre Bewegung ist politisch, ethnisch und sozial heterogen, der Himmelskönig in Nanking will lieber meditieren als regieren, und so zerfällt sein „kleines Paradies“ bald in Chaos, Terror und Krieg.

Barbaren sind immer nur die anderen

Thome hatte natürlich die Schreckensherrschaft von Taliban und IS vor Augen, aber er hält sich eng an die Fakten und teilt Seitenhiebe nach allen Seiten aus. Barbaren sind ja immer nur die anderen. Für das alte, traditionelle China sind die Zopflosen wirrköpfige „Langhaarige“, für die Rebellen wiederum sind die Mandschu-Kaiser Barbaren aus dem Norden. Für die Europäer sind alle Chinesen „arrogante Halbwilde“, verstockt, weltfremd, hinterhältig, weder rationalen Argumenten zugänglich noch offen für den unaufhaltsamen Fortschritt. Für die Chinesen wiederum sind die Langnasen, die an so absurde Dinge wie die Jungfrauengeburt glauben, für den freien Opiumhandel Krieg führen und dabei mutwillig den herrlichen kaiserlichen Sommerpalast zerstören, schreckliche Kulturbarbaren. So glaubt jeder das „Mandat des Himmels“ zu haben; dabei wissen wir nie, wie Reverend Reilly einmal bemerkt, „in wessen Dienst wir wirklich stehen“.

Thome erfindet überwiegend sehr lebendige Figuren und Dialoge und montiert immer wieder halbdokumentarische Quellentexte – Unterhausreden, Dissidenten-Tagebücher, Zeitungsartikel – ein. Man weiß nie genau, was Zitat, poetische Verdichtung oder reine Fiktion ist, und diese Ungewissheit hat Methode. Aber trotz Karten und Personenregister ist es auch nicht ganz leicht, den Überblick über das Gewimmel der Missionare, Mandarine, Konkubinen und Generäle zu behalten.

Drei Figuren stehen im Zentrum. Philipp Johann Neukamp, der Erzähler, ist ein deutscher Idealist, der nach der gescheiterten Revolution 1848 als Missionar nach China geht, um wenigstens am anderen Ende der Welt die Götzenbilder der Barbarei zu stürzen. Der neugierige Abenteurer wird nicht nur einen Arm verlieren (durch einen Piratenangriff, genauer: durch die Säge seines Dämons, des Sklavenjägers Potter), sondern seinen Glauben an die Überlegenheit Europas. Freihandel, Fortschritt, Vernunft, Demokratie – alles, was die Kolonialmächte im Namen von Gott und Menschenrechten propapieren, sind zynische Lügen, bestenfalls leere Worte.

Warlord und Gelehrter in einer Person

Auch Lord Elgin weiß das insgeheim. Aber der britische Sondergesandte (und Sohn des Parthenonfries-Räubers) muss die Macht des Empires sichern und mehren, und das geht nun mal nicht ohne hässliche Massaker ab. Der melancholische schottische Aristokrat leidet nicht nur unter Hitze und Heimweh, sondern zweifelt auch immer öfter an seiner Mission. Die stumme Chinesin mit den verkrüppelten Lotusfüßen, die ihm im Opium- und Malariafieber erscheint, ist das Emblem jener unergründlichen Fremdheit, an der sich Europa versündigt. Elgins Sekretär Maddox, ein Klugscheißer mit komischen Zügen, weiß alles über chinesische Medizin, Schriftzeichen und das kafkaeske Hofzeremoniell, aber selbst ihm bleibt die Seele des Landes ein Rätsel.

General Zeng Guofan schließlich, als Warlord ein brutaler Schlächter, ist eigentlich ein müder alter Gelehrter, der nur widerwillig seinen Elfenbeinturm verließ, um dem Kaiser zu dienen. Seine Lieblingsautoren Hai Rui und Wang Fuzhi lehrten vor fünfhundert Jahren, wie man Widerstand übt und Barbaren durch Mitgefühl beschämt. Aber Zeng Guofans skrupelloser Meisterschüler Li Hongzhang weiß es besser. Man muss von den ausländischen Teufeln lernen, um sie mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können. Sein Pragmatismus ist heute Staatsdoktrin in China.

„Gott der Barbaren“ ist ein meisterhaft komponierter Roman, der sich in Opiumhöhlen, stinkenden Slums und wohlriechenden Himmelspalästen herumtreibt, aber auch viel weiß über Barbarei und Zivilisation, europäisches Fortschrittsdenken und chinesisches Harmoniestreben. Thome erzählt konfuzianisch gelassen, kalligrafisch schön, episch ausholend, manchmal spannend wie Joseph Conrad und Karl May, und dieser Reichtum an Erzählkunst und Weisheit trägt über gelegentliche Unebenheiten und Längen hinweg. Es ist ein weiter Weg vom hessischen Biedenkopf bis ins Nanking des Himmelskönigs, aber jede der siebenhundert Seiten lohnt sich.

Stephan Thome: Gott der Barbaren.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 720 Seiten, 25 Euro.