Starke 30 Jahre ist es her, dass Stephen King seinen Horrorclown Pennywise aus den Kanälen in die Welt kriechen ließ. Eine erneute Lektüre des Gruselwälzers anlässlich des bald startenden zweiten Teils der Neuverfilmung von „Es“ – mit überraschender Erkenntnis.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Stuttgart - Nach Jahrzehnten die Nase wieder in einen dieser Schmöker der Kindheit und Jugend zu stecken, kann gelegentlich ziemlich ernüchternd sein. Karl May, Jules Verne oder gar die Drei Fragezeichen taugen heute nur noch als Audio-Version zum Zeitvertreib auf dem Laufband, und auch so manch anderer vermeintlicher Mythos der frühen Lesejahre bliebe lieber in der Erinnerung gelesen.

 

Doch manchmal ist die Neugier doch zu groß und eine Neuverfilmung eine willkommene Gelegenheit, das eine oder andere Buch noch einmal aus dem Regal zu holen. Um die Jahrtausendwende war dies Tolkiens „Herr der Ringe“, das in der Jugend aufgrund des Überdrusses an elbischem Liedgut und dem lächerlichen Auftritt eines gewissen Tom Bombadil nicht ausgelesen geblieben war.

Zurzeit gilt dies für Stephen Kings „Es“, jenem voluminösen Horrorthriller aus dem Jahr 1986, der wie kaum ein anderes Buch für das Gesamtwerk eines der am meisten gelesenen amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart steht. Der zweite Teil der Neuverfilmung kommt bald in die Kinos, der erste Teile hatte das kritische Publikum durchaus überzeugt. Anlass genug, sich erneut mit dem „Club der Verlierer“ auf den Horrortrip ihres Lebens zu begeben.

Unmöglich, auf die Taschenbuchausgabe zu warten

Bereits die 860 Seiten dicke und knallrote deutsche Originalausgabe in der Hand zu halten, löst einen Wust an Erinnerungen aus. Mitte der 80er, da taute der kalte Krieg erst allmählich auf, Musik lief auf Kassetten in dicken Abspielgeräten names Walkman, Mädchen waren vollkommen rätselhaft. Der Meister des Horrors hatte da dem jugendlichen Leser bereits mit vielen seiner gruseligen Geschichten schlaflose Nächte bereitet, und auf die (bezahlbare) Taschenausgabe von „Es“ zu warten, war spannungstechnisch schlechterdings unmöglich.

Doch die Leihausgaben in der Stadtbücherei hatten alle ein rotes X auf dem Leihschein, waren mithin nur an Volljährige auszugeben und schienen unerreichbar. Aber der beherzte Marsch zur Ausgabe mit dem bereits völlig zerlesenen Exemplar unter am Arm und der feste Blick ins Auge der Bibliothekarin brachten den Erfolg. Womöglich hat die Dame nach kurzer innerer Prüfung dem jungen Entleiher die sittliche Reife attestiert – oder es hatte geholfen, dass er bereits seit Jahren auf den Lese-Inseln der Stadtbücherei herumlungerte und schon zahllose Bücher hinaus- und wieder hereingetragen hatte. Die städtische Bücherei – das war ein Ort der Freude und der Fantasie.

So wie für Ben Hanscom, dem klugen und sensiblen Dicken aus dem Club der Verlierer, den der Leser zu Beginn des zweiten Teils als kleinen Jungen kennenlernt, als er vor der Schlägertruppe rund um Henry Bowers in die Bücherei der amerikanischen Kleinstadt Derry flüchtet. Aber da hat der Gruselmagier Stephen King seinen um Jahrzehnte gealterten Leser schon längst wieder fest im Griff. Vom Bibliothekar Michael Hanlon, ebenfalls einer aus dem Club der Verlierer und als einziger seiner Freunde in Derry geblieben, als Erzähler und Berichterstatter an die Hand genommen, erlebt er den Schrecken wieder – und entdeckt zugleich ein neues Buch.

Ein Horrortrip durch die Jahrzehnte

Denn bekanntlich hat „Es“ vornehmlich zwei Zeitebenen; die Handlung wechselt zwischen 1958 und 1985, die beiden Jahre, in denen sich der Club der Verlierer dem ultimativ Bösen stellt, das hinter Derrys amerikanischer Kleinbürgeridylle lauert. Doch während die jugendliche Leseratte sich damals morgens um zwei auf dem Sofa, eingewickelt in eine Wolldecke, den Kindern und ihrer Verzweiflung im Kampf gegen das Böse so viel näher fühlte und die Episoden aus den 80ern eher als eine vage Vision vom garstigen Erwachsensein erschienen, ist es 30 Jahre später genau umgekehrt.

Denn Mitte der 80er ist der Club der Verlierer Ende 30 – also einiges jünger als die Leseratte von einst. Die Erlebnisse aus den Kinderjahren lösen nostalgische Erinnerungen aus: Wer hatte nicht eine wüste Spielwiese wie die Barrens, als die Baulücken in die Stadtteilen noch zahlreich waren? Wer hatte nicht das Kribbeln leicht unterhalb des Bauchnabels oder das Flattern mitten im Herzen, wenn die Angebetete auch nur in der Nähe war, geschweige denn das Wort an einen richtete, was damals die Erwartung des sofortigen Todes auslöste? Wem erschien die vernünftige Weltsicht der Erwachsenen nicht nur unverständlich, sondern vor allem langweilig? Womöglich lauerte ja doch im Keller, im Schrank oder auf dem Dachboden etwas. War da nicht ein leichtes Schaben zu hören, nachts, wenn Du aufs Klo musstest?

Drei Jahrzehnte später: Äußerlich durchaus erfolgreich, ist die kleine Schar, die 1958 dem Bösen die Stirn geboten hatte, doch seelisch verwundet und letztlich ein Club der Verlierer geblieben. Was sie tun, tun sie mit Erfolg, aber ihren Platz haben sie nicht gefunden – sei es der überdrehte Ritchie Tozier, dessen komödiantisches Talent ihn zum beliebten, aber einsamen Radiomoderator gemacht hat, oder die entzückende Beverly Marsh, die in einer gewalttätigen Ehe gefangen ist. Und plötzlich beginnt der Leser selbst, ein wenig Bilanz zu ziehen. Wie sind die eigenen Jahrzehnte verlaufen, was ist übrig geblieben von den kindlichen Träumen, und wichtiger noch, von den Dämonen?

Stephen Kings „Es“ bleibt auch Jahrzehnte später ein starkes Buch – weil es vor allem von den Erzängsten und dem Kampf um den richtigen Platz im Leben erzählt. „Es“ oder der Clown Pennywise, als der das Monstrum gelegentlich erscheint, steht da nur symbolisch für das Leben, das einem stetig Knüppel zwischen die Beine wirft. Smartphones, Internet und Facebook sind nur vorübergehende Erscheinungen – die Ängste bleiben so frisch wie damals.