Wie macht man klassische Musik attraktiv für ein junges Publikum? Durch kleine Räume, nahbare Musiker, überraschende Programme und neue Darstellungsformen, sagt der Cellist und Kulturmanager Steven Walter. Das Podium-Festival Esslingen, das er mitgründete, beginnt an diesem Donnerstag.

Esslingen - Bachs „Johannespassion“ als intimes Trio: mit nur einem Sänger, einer Cembalistin und einem Schlagzeuger. Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“, vollständig gespielt, aber ohne menschliche Stimme (dafür mit Geige und Klavier). Barocke Gambenmusik trifft auf Minimal Music. In einer Kirche werden Weltraumdaten vertont. In der Villa Merkel ist Live-Musik begehbar; im Club improvisiert man über Brahms. Bis zum 11. Mai kann man all das in Esslingen erleben: Dann geht das Podium-Festival in sein elftes Jahr. Eine Erfolgsgeschichte, die aus Überdruss und Neugier entstand - man mag sie kaum glauben.

 

Als sich 2009 ein paar junge Musiker zusammenfanden, um ihre Unzufriedenheit mit dem zementierten Klassik-Betrieb kreativ zu nutzen, hätte jedenfalls keiner von ihnen gedacht, dass ihre bescheidenen Kammermusik-Experimente wenig später ein vielfach imitiertes und mit etlichen renommierten Innovationspreisen ausgezeichnetes Erfolgsmodell werden würde. Da haben sie einfach ausprobiert, wie es wäre, wenn man etwas anders machte: also in kleine Räume ginge, Werke unterschiedlicher Genres ebenso wie unterschiedliche Kunstgattungen an einem Abend kollidieren und kooperieren ließe, die frontale Präsentation aufbräche, Großes durch Bearbeitungen nahbar machte, Musik auch als Raum-, Licht- und Performance-Kunst wirken ließe. Klassische Musik als Inspiration, nicht als Diktat (später hat man das in Esslingen „erweiterte Interpretationspraxis“ genannt).

„Denkmäler brauchen Schutz, aber man kann auch mit ihnen spielen“: Das hätte damals das Motto der jungen Musiker rund um den Cellisten und Kulturmanager Steven Walter sein können, als sie lustvoll einfach immer weiter machten – und dafür private Gelder ebenso akquirierten wie öffentliche Förderung. „Musik, wie sie will“: Das ist tatsächlich der Slogan des Podium-Festivals geworden, und er sagt, wenn man ihn richtig versteht, noch weit mehr aus über den Aufbruchsgeist einer Initiative, die längst bundesweit (im Berliner Radialsystem ebenso wie beim Beethovenfest in Bonn, in der Elbphilharmonie und 2020 auch bei den Donaueschinger Musiktagen) Satelliten installiert und Nachahmer gefunden hat.„Viele Klassik-Festivals wollen Innovation, aber nur sehr wenige sind bereit, sich die Hände schmutzig zu machen“, stellt Walter fest. Tatsache ist: Ohne das Podium-Festival gäbe es heute womöglich nicht das gerade gehypte Stegreif-Orchester und ganz bestimmt nicht das mindestens ebenso hoch gehandelte Vision String Quartet – sie alle explodieren förmlich vor Energie, weil sie auswendig spielen und die klassisch-romantische Literatur als Spielangebot nehmen. Das Festival selbst, sagt Walter, sei nur ein „Showcase“, ein „Start-up-Inkubator“; in Esslingen baue man „Prototypen, die dann alleine fliegen können“. Und die beweisen, „dass Musik weit mehr Aggregatzustände haben kann als nur ein klassisches Konzert“.

Musik ist auch Bewegung im Raum und soziales Ereignis

„Musik, wie sie will“: Das klingt gut, aber was will denn die wort- und begriffslose Klangkunst? „Die im Laufe der Musikgeschichte zunehmende Fokussierung auf das Klingende allein ist ein großes Missverständnis“, sagt Steven Walter. Musik sei nämlich nie nur abstrakte Kunst für die Ohren, sondern auch Bewegung im Raum, von Spots beleuchtete Aufführung, soziales, womöglich gar politisches Ereignis und (in Verbindung mit Sprache) erzählte Geschichte. Also auch nur ausnahmsweise, nämlich im Fall der musikalischen Großformate aus dem 19. Jahrhundert, gemacht für einen riesigen Konzertsaal mit verdunkelten Zuschauerreihen und einer von diesen weit entfernten, hellen Bühne. Das Heroische, der im 19. Jahrhundert entstandene Virtuosenkult und der Begriff des unantastbaren, sakrosankten Kunstwerks, hat sich nach Meinung des Kulturmanagers heute ohnehin überlebt. Mit klassischen Musikstücken könne man nun so frei umgehen, wie es zu ihrer Entstehungszeit auch schon der Fall war. Und zwar gebe es nach wie vor Musiker mit Aura, „aber wie nicht zuletzt der Fall Daniel Barenboim zeigt, sind wir heute skeptischer geworden gegenüber der Überhöhung von Künstlern“. Spätestens in Zeiten des Internets liege die größte Kraft nicht mehr in einzelnen Menschen, sondern im Netzwerk. „Postheroisch“ sei nicht nur die organisatorische und künstlerische Grundstruktur seines Festivals, sondern „postheroisch ist auch die Zukunft des Musikschaffens“.

Die Zukunft des Musikschaffens: Wie sieht die dann aus? Gehören die Fossilien des Musikbetriebs, das Oratorium in der Kirche, die groß besetzte Sinfonie im 2000-Plätze-Saal, abgeschafft? Aber nein doch, sagt Walter, die reiche Kultur in Deutschland sei fantastisch! Ein Oratorium mit dem örtlichen Kirchenchor in einer Dorfkirche: was für eine Tradition, was für ein Schatz! Und dennoch: „Wir brauchen eine Vielfalt der Darstellungsformen, um neue Zugänge zu schaffen – nur so können wir mit der alten Musik die Zielgruppen erreichen, die wir erreichen wollen und erreichen müssen.“ Wobei Bachs Johannespassion als Kammermusik beim Podium-Festival mitnichten nur eine Art Vorstufe zur „echten“ Musik sein soll. Als „erweiterte Forschungsabteilung des Klassik-Betriebs“ bezeichnet Steven Walter das Podium-Festival gerne, aber dessen erweiterte Marketingabteilung sei man nicht. Sondern biete „eigenständige ästhetische Erfahrungen, die für sich selbst wertvoll sind“.

Der Besucher soll das Staunen neu lernen

Und niedrigschwellig, ohne banal zu sein. „Musik muss sich immer auch auf sinnlicher Ebene erschließen lassen“, fordert Walter. Beim Podium-Festival glaube man einfach nicht daran, „dass man erst einen Vortrag hören oder einen Essay lesen muss, damit man ein Werk versteht“. Niedrigschwellig, das heißt in Esslingen, dass man der Musik nicht im Weg stehen will – und bezeichnet diese Haltung dort gerne auch als Zugewandtheit gegenüber dem Publikum. Die Besucher sollen das Staunen neu lernen. Sie sollen etwas Einzigartiges, Besonderes erleben, ein analoges, überraschendes, womöglich gar spirituelles Live-Erlebnis, einen Raum für gebündelte Aufmerksamkeit, erreicht vor allem durch (kammermusikalische) Reduktion. „Musik“, sagt Steven Walter, „kann all dies erreichen, deshalb bin ich extrem kulturoptimistisch, was Konzerte und Kunstmusik angeht, denn sie erfüllen eine große Sehnsucht. Wir müssen nur Situationen schaffen, in denen diese eingelöst wird und nicht in Routine erstickt.“