„Verantwortungslosigkeit, Denkzettel, Katastrophe“: Schwarze und rote Lokalpolitiker aus der Region Leonberg reagieren schockiert auf die anfangs gescheiterte Kanzlerwahl. Die Stimmung bessert sich erst am Nachmittag.

Leonberg: Marius Venturini (mv)

Von Fassungslosigkeit bis schierem Entsetzen: Dass Kanzlerkandidat Friedrich Merz im ersten Wahlgang am Vormittag durchgefallen ist, löst an der Basis der Parteien der beiden Koalitionäre ein mittleres Erdbeben aus. 316 Stimmen hätte der Christdemokrat im Bundestag benötigt, es wurden nur 310. Ein Debakel, das erst im zweiten Wahlgang zurecht gerückt wurde.

 

„Puh, das war knapp“, kommentiert Oliver Zander am Dienstnachmittag die am Ende geglückte Kanzlerwahl. Zuvor war der Chef des Leonberger CDU-Stadtverbandes mit den anonymen Abweichlern der Wahlpleite vom Morgen hart ins Gericht gegangen: „Ich bin fassungslos über die Verantwortungslosigkeit der Abgeordneten der Regierungsparteien, die Friedrich Merz nicht gewählt haben“, sagte er noch am Mittag. „Es gab Koalitionsverhandlungen und einen Vertrag, und jetzt aus persönlichen Befindlichkeiten Friedrich Merz nicht zu wählen, halte ich für grob fahrlässig für unser Land.“

„Grob fahrlässig für das Land“: Der Leonberger CDU-Chef Oliver Zander. Foto: Simon Granville

Zander, der auch Vorsitzender der Leonberger CDU-Gemeinderatsfraktion ist, befürchtet durch den notwendig gewordenen zweiten Wahlgang eine internationale Beschädigung Deutschlands: „Mit der Nichtwahl von Friedrich Merz im ersten Anlauf schwächen wir unsere Position in der Welt erheblich. Dies führt dazu, dass wir einen beschädigten und schwachen Kanzler zu wichtigen internationalen Verhandlungen, wie beispielsweise mit Trump, schicken.“

Nicht minder deutlich drückt sich Ottmar Pfitzenmaier (SPD)aus: „Das ist katastrophal. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs hat den Vertrauensverlust der Menschen in die Politik weiter erhöht und sie noch stärker in Richtung AfD treibt. Verheerend ist das auch für die Wirtschaft, die sehnsüchtig auf Verbesserungen der politischen Rahmenbedingungen wartet.“

„Verheerend“: Leonberges SPD-Fraktionschef Ottmar Pfitzenmaier. Foto: Simon Granville

Aus welchen Reihen die Abweichler des Morgens kommen, darüber will der Chef der Leonberger SPD-Fraktionschef zwar nicht spekulieren. Dennoch wirft er einen Blick auf die eigene Partei: „Natürlich hat jeder Abgeordnete ein unabhängiges Mandat. Aber wenn die SPD-Basis mit mehr als 85 Prozent für den Koalitionsvertrag stimmt, so ist das ein sehr klares Signal an unsere Abgeordneten, dass sie ihre staatspolitische Verantwortung wahrnehmen sollen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass offensichtlich persönliche Animositäten über das Gemeinwohl gestellt wurden.“ Am Spätnachmittag war Pfitzenmaier „dann doch erleichtert“.

Morgendliche Ratlosigkeit auch in Weil der Stadt: „Ich bin schockiert“, sagte der CDU-Chef Joachim Oehler nach dem ersten Wahlgang. Er selbst sei vorab schon etwas nervös gewesen. „Aber das, was da passiert ist, war in keinster Weise staatsmännisch.“ Durch den Erfolg im zweiten Anlauf sei es zwar bei einem Denkzettel geblieben und drohende Neuwahlen konnten vermieden werden.„ Aber es ist ein denkbar schlechter Start.“ Neuwahlen sind für ihn keine Option.

„AfD und Linke feiern“

Der Weiler SPD-Ortsvereinsvorsitzende Felix Mayer blickt „mit großem Entsetzen“ nach Berlin. „Es ist ein Drama, was sich dort abgespielt hat.“ Die demokratische Mitte verliere stark an Glaubwürdigkeit, „während AfD und Linke feiern“. Auch Mayer hätte von Neuwahlen wenig gehalten – und fügt noch hinzu: „Eigentlich ist es ja gerade dramatisch genug, was auf der Welt passiert.“

Walter Bauer, der CDU-Fraktionschef im Hemminger Gemeinderat, findet ebenfalls klare Worte: „Die Abweichler können ja nur von der SPD kommen.“ Er vermutet gekränkte Egos und persönliche Animositäten hinter den fehlenden Stimmen. Denn im Großen und Ganzen habe die SPD ja gut verhandelt. Er sieht das Ergebnis des ersten Wahlgangs somit als „Denkzettel für die SPD-Spitze in Person von Lars Klingbeil“.

Berhan Tongay, stellvertretender SPD-Vorsitzender in Hemmingen, sieht die Abstimmung am Vormittag ziemlich nüchtern. „Jetzt werden die demokratischen Mechanismen durchlaufen und die Demokratie als solche getestet“, sagt der Sozialdemokrat – der sich die erste Wahl natürlich ebenfalls „ganz anders“ gewünscht hätte. „Aber vielleicht stärkt so etwas ja auch die neue Regierung anstatt sie zu schwächen. Wir brauchen „so schnell wie möglich eine stabile Regierung“, meint der Kommunalpolitiker aus der Strohgäu-Gemeinde.