Die Olympischen Spiele 2012 in London sind fast vorbei. Da ist es Zeit für ein Dankeschön für eine tolle Atmosphäre. Das Publikum und die Fans hätten kaum besser sein können – genauso wie der Gastgeber selbst.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

London - Felix Sanchez stand da und heulte. Erst waren es nur wenige Tränen, dann mehr, und schließlich weinte er, wie man es in diesen olympischen Tagen noch nicht gesehen hatte. Es lief die Nationalhymne der Dominikanischen Republik, er hatte zuvor die 400 Meter Hürden gewonnen. Seine Gedanken waren bei seiner verstorbenen Oma, wie er später erzählte. Sie war 2008 gestorben, damals versprach er, für sie diese Medaille zu gewinnen.

 

Nun, da Sanchez sie hatte, übermannten ihn die Emotionen. Was macht man als Zuschauer, wenn da unten einer während der Hymne weint und das großflächig auf den Leinwänden zu sehen ist? Die 80 000 applaudierten, wo sonst aus Respekt alle schweigen. Lauter, immer lauter. Und noch lauter. Zuschauer hatten Tränen in den Augen. Es gab rasende Ovationen für diesen Mann. Sie waren auf seltsame Art und Weise würdevoll. Nie war Olympia gefühlvoller als in diesen Sekunden, die ein Publikum und einen Athleten emotional verbanden.

„Legacy“ war das Wort dieser Spiele – bevor sie begonnen hatten. Es bedeutet Vermächtnis, und es war vorab das große Thema, was von den Spielen bleiben wird, wenn sie am Montag Geschichte sind. Was wird aus den Investitionen? Wie geht es mit East London weiter? Welche Auswirkungen auf den Sport wird Olympia haben? Was bleibt? Ein Publikum, wie es besser nicht hätte sein könnte. Das bleibt.

Der olympische Geist war überall

Zuschauer, die den Sportlern so viele schöne Momente beschert haben. Es wird bei Olympischen Spielen viel über Milliardensummen gesprochen, über Verkehr, Sicherheit und über Doping. Entscheidend für den Verlauf aber ist (neben einer guten Organisation), ob Zuschauer und Athleten eine Verbindung aufbauen. Das macht den „Spirit“ von Olympia aus, den Geist, die Wechselwirkung zwischen dem Mensch im Wettkampf und der Masse auf den Rängen.

Es gibt keinen Athleten, der nicht begeistert ist von der Atmosphäre, selbst in Sportarten, die den Briten wenig vertraut sind, sorgen die Gastgeber in Kombination mit den angereisten Fans für eine einzigartige Stimmung. Es liegt in der Natur der Sache, dass die heimischen Sportler besonders angefeuert werden, das ist überall so, aber der Weitspringer Will Claye aus den USA sagte nach seinem dritten Platz stellvertretend: „Die Menge hat uns das Gefühl gegeben, dass wir zu Hause sind.“ Sie feuerten ihn an, obwohl er doch das Ziel hatte, dem Briten Greg Rutherford das Gold noch zu entreißen. Das ist der olympische Geist. Respekt. Fairness. Das prägt diese Spiele.

Als Timo Boll im Tischtennis-Halbfinale gegen den Chinesen Zhang Jike zauberte, schlossen sich selbst britische Zuschauer den „Deutschland, Deutschland“-Rufen der deutschen Fangruppe an. Welch schöne Szene in einer doch sonst so gerne mit zahllosen Stereotypen und Kriegsgeheul befeuerten Atmosphäre bei Begegnungen jedweder Art dieser beiden Länder.

Die Stimmung in den Stadien ist unvergleichbar

Weit weg von London, an der Küste, wurde von einigen Zuschauern bei den Segelwettbewerben „Rule, Britannia“ angestimmt, die inoffizielle Hymne des Königreichs. Es ist das Hohe Lied auf das alte Empire, diese einstige Weltmacht zur See, Begleitmusik und Text zum Führungsanspruch, den Großbritannien hatte, als es eine Kolonialmacht war: „Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen! Briten werden niemals Sklaven sein“, sangen sie. Manch einem war das doch zu viel. Es war eine Ausnahme, von aggressivem Patriotismus ist hier wenig zu spüren.

Aber es gibt dieses Olympia zweimal.

Es gibt die Olympischen Spiele in den Stadien und Hallen. Und es gibt die britischen Spiele. Letztere finden in den heimischen Medien statt. Wer keine Karten bekommen hat, kennt nur dieses Scheuklappenolympia. Es sind die Spiele, die wenig mit der weltoffenen Stimmung vor Ort zu tun  haben. Es ist ein nationalistisches Triumphgeheul. Tag für Tag. Rule, Britannia! Das Empire hat zu alter Größe zurückgefunden, so klingt das. Dumpf und trunken kommt die Berichterstattung in Boulevardblättern daher, wobei die eben sind, wie sie sind, aber auch einige seriöse Medien taumeln im Goldrausch des Union Jacks.

Olympia besteht dort aus Großbritannien und Usain Bolt. Der Rest? Statisten in der großen GB-Show. Auch die BBC, ein Aushängeschild des Journalismus und im TV-Alltag mit einer herausragenden Berichterstattung aus aller Welt, widmet sich kaum etwas anderem als dem Team GB. Ketzerisch wurde von Kommentatoren die Frage gestellt, warum Großbritannien eigentlich die Welt eingeladen habe, wenn das Land sich offensichtlich nicht für sie interessiere. „Haltung bewahren“, forderte die „Financial Times“. Und die stets kritische Sängerlegende Morrissey polterte in Richtung der Medien: „Ich ertrage diesen dröhnenden Hurrapatriotismus nicht.“

Die Wahrheit aber ist auf dem Platz, und dort bleibt schon jetzt nur eines zu sagen. Danke schön, London! Thank you, London!