Am 13. April wird für die dreijährige Gerda Metzger vor dem ehemaligen städtischen Kinderkrankenhaus in der Türlenstraße ein Stolperstein verlegt. Sie war im Sommer 1943 wegen ihrer geistigen Behinderung in der Klinik umgebracht worden.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die Ahnung war gleich da, dass etwas nicht stimmt mit diesem Arzt. Aber wie hätte Berta Metzger ihr einziges Töchterchen, die dreijährige geistig behinderte Gerda, schützen sollen, als jener Arzt im schwarzen Mantel am 11. Juli 1943 plötzlich bei ihr auf dem Hof stand und darauf bestand, das Mädchen mitzunehmen? Gerda starb bereits am nächsten Tag in der „Kinderfachabteilung“ in der Stuttgarter Türlenstraße, die vermutlich Anfang 1943 eingerichtet worden war. Sie ist eines von 52 Kindern, die allem Anschein nach direkt in der Kinderklinik umgebracht wurden, weil die Nazis sie nicht für lebenswert erachteten. Am 13. April verlegt der Künstler Gunter Demnig für die kleine Gerda Metzger am Bürgerhospital einen Stolperstein.

 

Karl-Horst Marquart, früher selbst Arzt am Stuttgarter Gesundheitsamt und seit vielen Jahren Rechercheur in Sachen „Kindereuthanasie“, hat vor einigen Jahren alle Totenscheine der Kinderklinik im Stadtarchiv akribisch durchgearbeitet. Alle verdächtigen Todesfälle notierte er sich; zum Beispiel lautete die Todesursache selbst bei Zweijährigen oft „Idiotie“, obwohl man eine geistige Behinderung in diesem Alter noch nicht feststellen kann. Gerda Metzger stand deshalb längst auf Marquarts Liste der mutmaßlichen Opfer – doch von ihr und von den meisten anderen Kindern kannte man keine Biografie.

Nicht einmal mehr einen Koffer packen durfte die Mutter

Das änderte sich, als eines Tages Matthias Herbert Enneper Kontakt zu Marquart aufnahm. Enneper hatte als Masseur Gerdas Mutter bis zu ihrem Tod 2009 in einem Pflegeheim in Rutesheim betreut. Irgendwann hatte sie Vertrauen gefasst und erzählte Enneper, was sie sonst fast niemandem erzählt hatte. Ihr Mann war im Krieg gefallen, und an jenem 11. Juli 1943 kam sie wie immer allein mit der kleinen Gerda vom Feld heim, als ein Wagen vor dem Haus in Flacht hielt. So bedeutend musste der Arzt sein, der nun ausstieg, dass er sogar einen Fahrer hatte. Er müsse das Kind untersuchen, sagte der Arzt und zog sich mit Gerda in ein Zimmer zurück – die Mutter durfte nicht dabei sein.

Bald hörte sie, wie ihr Kind heulte und schrie, doch der Fahrer habe ihr den Weg in das Zimmer versperrt. Als der Arzt endlich wieder herauskam, sah die Mutter das Kind nackt in einer Ecke sitzen und weinen. Es sei krank, behauptete der Arzt, und er müsse es mitnehmen in die Klinik. Völlig überrumpelt wollte Berta Metzger einen Koffer packen, doch in dieser Zeit zerrten die beiden Männer das Kind schon ins Auto und fuhren davon. „Mei klois Döchterle“, habe Berta Metzger immer gesagt, erinnert sich Enneper: „Mei klois Döchterle.“

Eine ganze Nacht lang ist die Mutter bis nach Stuttgart gegangen

Ganz von Sinnen hat sich Berta Metzger sofort aufgemacht und ist in dieser Nacht die 30 Kilometer nach Stuttgart zu Fuß gegangen. Zuerst hat man sie an der Pforte des Kinderkrankenhauses abwimmeln wollen, doch die resolute Bäuerin ließ sich nicht wegschicken. So durfte sie zu Gerda ins Krankenzimmer, doch das Kind sei ganz weggetreten und nicht mehr ansprechbar gewesen. Als die Mutter am nächsten Morgen wiederkam, teilte man ihr mit, dass Gerda in der Nacht an einer ansteckenden Krankheit gestorben sei. Dabei war Gerda bis zum Vortag munter und gesund gewesen. Marquart vermutet deshalb, dass ein Arzt ihr eine Überdosis des Beruhigungsmittels Luminal gespritzt hat. Das war in den „Kinderfachabteilungen“ das gängige Todesmedikament. Berta Metzger durfte ihre tote Tochter nicht einmal mehr sehen.

Nach dem Krieg hat sie selten über den Verlust gesprochen. In Flacht, so hat sie Enneper erzählt, habe man ihr nur gesagt, sie solle froh sein, das Mädle sei doch ein Idiot gewesen. Sie sei deshalb mit Absicht in den Nachbarort ins Pflegeheim gezogen. Denn für Berta Metzger war Gerda ein normales Kind. „Nur im Kopf hat ihr ein bissle was gefehlt“, habe sie gesagt. Matthias Herbert Enneper hat die Sache so bewegt, dass er Berta Metzger gefragt hat, ob er die Geschichte öffentlich machen darf. „Wenn ich tot bin“, antwortete sie: „Dann erzählen Sie sie dem, der sie hören will.“

Karl-Horst Marquart wollte sie hören. Und er hat lange über sie nachgedacht. Nun konnte er nachweisen, dass die Daten in den Totenscheinen gefälscht waren. Denn bei Gerda Metzger war als Todesursache „Diphtherie“ angegeben und als Zeitpunkt 12.20 Uhr. Beides konnte nicht stimmen.

5000 Kinder sind in Deutschland in Kliniken ermordet worden

Und selbst Marquart, der sich seit vielen Jahren in diesen erschütternden Lebensgeschichten bewegt, war fassungslos über den Fanatismus jenes Arztes im schwarzen Mantel. Denn nach Marquarts Auffassung hatte es selbst nach der verqueren Logik der Nazis keine Notwendigkeit gegeben, Gerda aus der Familie abzuholen. Normalerweise urteilte ein Reichsausschuss in Berlin nach Aktenlage, ob ein behindertes Kind in eine der „Abteilungen“ eingewiesen wurde oder nicht. Man schätzt, dass die Ärzte in Berlin bei jedem vierten Kind „Behandlung“ ankreuzten, was die Ermordung bedeutete. 5000 Kinder sollen so umgekommen sein, neben jenen 70 000 behinderten Menschen, die 1940/41 aus Heimen weggeholt und auch in Grafeneck auf der Alb vergast worden sind.

Bei Gerda Metzger scheint aber der Arzt auf eigene Faust gehandelt zu haben – denn es gab keine Anweisung des Reichsausschusses oder des Gesundheitsamtes Leonberg. Marquart vermutet, dass es sich um den Landesjugendarzt Max Eyrich gehandelt hat, der als einziger Amtsarzt einen Fahrer gehabt habe und als Rassenideologe bekannt war. Als Landesjugendarzt, so sagte Eyrich einmal, sei es seine Aufgabe, „erbbiologisches Sieb dieser Jugend“ zu sein.

Keine Verurteilungen in Stuttgart wegen der „Kindereuthanasie“

Für Matthias Herbert Enneper war es wichtig, diese Geschichte zu einem Abschluss zu bringen – das ist nun mit der Verlegung des Stolpersteins der Fall. Die Ärzte Karl Lempp und Magdalene Schütte, die laut den Recherchen Marquarts die Fachabteilung in Stuttgart leiteten, wurden übrigens trotz vieler Ermittlungen ebenso wenig verurteilt wie Max Eyrich, der 1949 zu den Angeklagten im Grafeneck-Prozess gehört hatte. Alle beteuerten ihre Unschuld. Karl Lempp blieb bis zur Pensionierung 1950 Leiter der Kinderklinik.

Wie es Berta Metzger wohl ginge, wenn sie am 13. April dabei sein könnte? „Sie würde wenig sagen – und viel weinen“, vermutet Enneper – so wie sie am Ende, nachdem sie die Geschichte ihres kleinen Töchterles erzählt hatte, auch nur geweint hat.

Stolperstein Die Verlegung des Stolpersteins für Gerda Metzger ist am 13. April, 11.50 Uhr, an der Türlenstraße 22 A. Insgesamt werden am 13. und 15. April 34 Steine verlegt.