Die Nationalsozialisten deportierten auch aus Stuttgart Juden. Wenig bekannt ist, dass sie das bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges taten. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“

Digital Desk: Simon Koenigsdorff (sko)

Der Winter naht, und in einem Haus im Süden des heutigen Polens macht sich Fanny Fischer große Sorgen. „Wenn ich mich an unser kaltes Zimmer erinnere, dann wird mir heute schon Angst“, schreibt sie in einem Brief an ihren Sohn Hermann. Ein andermal bittet sie ihn: „Wenn du Päckchen schicken kannst, dann mache das, denn wir können es gut gebrauchen.“

 

Es ist Spätherbst im Jahr 1941, und Fanny und ihr Ehemann Max blicken ins Ungewisse, ebenso wie die Menschen, die sich mit ihnen im Haus drängen, mit denen sie das kleine Zimmer, das Essen, den rauchenden Heizofen teilen. Ihr Sohn Hermann hingegen hat es in die USA geschafft.

Um zu verstehen, wie Familie Fischer getrennt wurde, muss man sich gedanklich nach Stuttgart begeben und drei Jahre zurückgehen. Im Herbst 1938 leben die Fischers am Marienplatz, ganz am Ende der Tübinger Straße, in einer Wohnung im Kaiserbau. Dort wohnen sie schon seit vielen Jahren, noch vor dem Ersten Weltkrieg waren sie 1913 Erstbezieher in dem damals modernen, prestigeträchtigen Gebäude. Im selben Jahr wurde auch ihr Sohn Hermann geboren. Max und Fanny kamen als junges Ehepaar aus der Gegend des polnischen Krakau, als Schaufensterdekorateur konnte Max es sich leisten, ein Wohnhaus in Heslach zu kaufen und zu vermieten. Doch der Umstand, dass die Fischers Juden sind, macht sie im Deutschland des Jahres 1938 zu Verfolgten.

Am Morgen verhaftet, am Abend mit Zügen verschleppt

Nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder drängen sich in den verschlossenen Zugwaggons, die am Abend des 28. Oktober 1938 von Stuttgart abfahren. Polizisten haben sie bereits am frühen Morgen desselben Tages aus ihren Wohnungen getrieben und ins Polizeigefängnis in der Büchsenstraße gebracht. Zu den Menschen, die an diesem Morgen verhaftet werden, weniger als ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, gehört auch Familie Fischer. Manchen Menschen erlauben die Polizisten noch, Kleidung oder andere Habseligkeiten einzupacken – ob Fischers die Chance dazu bekommen, ist unbekannt. Im Gefängnis in der Büchsenstraße jedenfalls mangelt es schnell an Essen, die Stuttgarter jüdische Gemeinde versucht, die Gefangenen mit dem Nötigsten zu versorgen.

Die Nationalsozialisten wollen Familie Fischer und ihre Leidensgenossen wegen ihrer Herkunft gewaltsam loswerden: Sie gelten als „Ostjuden“ und haben die polnische Staatsbürgerschaft. Doch Polen droht seit Anfang Oktober 1938, diese Gruppe von vielen Tausend im Ausland lebenden Menschen staatenlos zu machen. Auf Befehl der Gestapo sollen die polnischen Juden abgeschoben werden, um der Ausbürgerung zuvorzukommen. Aus dem heutigen Baden-Württemberg dürften 1938 etwa 300 von ihnen abgeschoben worden sein. Wie viele aus Stuttgart kamen, ist bis heute nicht abschließend geklärt, 1933 lebten noch 225 in der Stadt.

Der Zug bringt Familie Fischer und die anderen Stuttgarter Deportierten in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober an die polnische Grenze, nach Zbaszyn (Bentschen). Dort sammeln sich Tausende, manche werden von Soldaten mit Bajonetten über die Grenze getrieben. Sie stranden im Nichts, manche können weiterreisen, die übrigen, oft ohne Geld und Wechselkleidung, harren während des bitterkalten Winters in Ställen und Baracken aus, nur notdürftig vom Roten Kreuz versorgt. Ihr Lager wird erst nach Monaten aufgelöst, kurz bevor die Wehrmacht in Polen einmarschiert.

Die sogenannte „Polenaktion“, bei der die Gestapo rund 17 000 Juden über die Grenze deportierte, zählt zu den weniger bekannten Ereignissen in der Chronik der Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Doch sie gilt als eine der Vorstufen des Massenmordes. Denn sie bewies der Gestapo, dass es möglich war, Tausende Menschen aus dem ganzen Reich zu verschleppen – vor aller Augen, ohne Widerstand abgesehen von den Juden selbst. Zu diesem Schluss kommen die Historikerinnen Alina Bothe und Gertrud Pickhan: „Dies war für die Nationalsozialisten eine wichtige Erfahrung, die sie nach der deutschen Besetzung Polens in den späteren Deportationen unerbittlich nutzten.“

Flucht vor der Verfolgung

Wie genau der Weg der Fischers nach der Deportation verläuft, lässt sich heute nur noch bruchstückhaft sagen. Spätestens 1941, als Fanny Briefe an Hermann schreibt, sind die Eltern in einem Haus in Oberschlesien angekommen. Sie leben dort auf engstem Raum mit mehreren anderen Familien. Hermanns Weg dagegen führt in die entgegengesetzte Richtung. Im Januar 1939 ist er bereits wieder zurück in Stuttgart. Warum seine Eltern zurückbleiben, ist unbekannt. Wie genau Hermann es schafft, sich eine „Erlaubnis zur vorübergehenden Rückkehr“ im deutschen Konsulat in Krakau zu besorgen und nach Stuttgart zurückzureisen, ebenfalls. Sein Ziel hingegen schon: Dem 25-Jährigen bleiben wenige Tage, um seine Emigration in die USA zu organisieren – ein Plan, den er offenbar schon im Sommer 1938 verfolgt hatte. Ende Januar bringt ihn ein Schiff von Hamburg nach New York.

Hermann Fischer kommt bei Verwandten unter und arbeitet von da an in einem New Yorker Fotostudio. Er stirbt 2003 in den USA, ohne je vom Schicksal seiner Familie erzählt zu haben. So berichtete es ein Bekannter anlässlich der Verlegung des Stolpersteins für Hermann, der seit 2020 die beiden Stolpersteine für die Eltern vor der Tübinger Straße 111 ergänzt. Wo und wie Max und Fanny Fischer starben, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, am wahrscheinlichsten gilt, dass sie 1942 im Krakauer Ghetto erschossen wurden.

Die Stolpersteine für die Familie Fischer in der Tübinger Straße 111 (Mutter Fanny Fischer abweichend als Jaha Fischer genannt). Foto: privat/Joachim Maier

Zeitgleich mit Familie Fischer hatten die Nationalsozialisten auch die Eltern von Herschel Grynszpan aus Hannover nach Polen deportiert. Herschel, mit 17 Jahren um einiges jünger als Hermann, lebte zu dieser Zeit in Paris. Als Herschel vom Schicksal seiner Eltern erfuhr, erschoss er am 7. November einen deutschen Diplomaten. Zwei Tage später brannten in Deutschland die Synagogen, auch in Stuttgart hatten die Nationalsozialisten Feuer gelegt. Die Reichspogromnacht ist der heute wesentlich bekanntere Vorbote des Holocaust und der 9. November ein bedeutsamer Gedenktag. Doch die ersten Züge gen Osten waren da bereits abgefahren.